Die Lagune Der Flamingos
ging ihr die goldene Uhr, die sie in Philipps Rock gefunden hatte, durch den Kopf. Was hatte das alles zu bedeuten? Dann musste sie daran denken, was Stiefvater und Stiefbruder erwähnt hatten, bevor sie zur Gaststätte aufgebrochen waren: In ein paar Tagen würde es wieder einmal auf Strafexpedition gegen die Indios gehen.
Eigentlich, überlegte Mina, während sie sich einseifte, ist das eine gute Zeit, um zu fliehen. Allerdings, wie sollte Frank dann je erfahren, wo sie zu finden war? Nun, sie hatten einmal davon gesprochen, dass sie sich, falls sie sich eines Tages aus den Augen verlieren würden, zu den Unabhängigkeitsfeiern an der Siegessäule auf der Plaza de la Victoria in Buenos Aires wiederfinden wollten. In diesem Jahr im Mai war es ihr unmöglich gewesen, nach Buenos Aires zu gelangen, aber im nächsten Jahr … Ob er sich noch daran erinnerte? Und würde er noch einmal kommen, wenn er sie dieses Jahr nicht angetroffen hatte?
Ich könnte es Irmelind sagen, fuhr es Mina durch den Kopf. Irmelind würde es an Frank weitergeben. Ich könnte sagen: Bitte erinnere ihn nächstes Jahr an den 25. Mai, Plaza de la Victoria, Buenos Aires.
Aber wie sollte sie nur nach Buenos Aires gelangen?
Siebtes Kapitel
Tucumán lag anderthalb leguas , also etwa neun Kilometer, vom Gebirge entfernt, inmitten einer Ebene, in der man Zuckerrohr, Reis, Mais und Tabak anbaute sowie etwas Viehzucht betrieb. Die Ansiedlung war verhältnismäßig groß, weil die meisten Gebäude von quintas , Gärten mit hohen Lehmmauern, umgeben waren, hatte aber vergleichsweise wenige Einwohner. An der zentralen Plaza mit ihren prächtigen Orangenalleen lagen zwei Hauptkirchen, das Stadthaus, mehrere Kaffeehäuser und einige ansehnliche Wohnhäuser. Dreimal in der Woche und samstags wurden hier Konzerte abgehalten. Dann promenierte die feine Gesellschaft Tucumáns in ihrer elegantesten und geschmackvollsten Kleidung.
Nachdenklich blickte Viktoria aus der Kutsche, in der sie auf Pedro wartete, auf die Straße hinaus. Er gab eben einen Brief an Anna für sie auf. Breit und gerade waren die Straßen hier, am Tage noch dazu öde und verlassen. Allenfalls Dienstboten erblickte man dann und einige wenige Geschäftsleute. Die Sommer in Tucumán, das hatte Viktoria bereits erlebt, waren warm und feucht wie in Salta. Die Stadt war dann wie ausgestorben, da fast alle Familien ins Gebirge oder auf ihre Estancias zogen. Von November bis Februar gab es fast täglich Gewitter mit wolkenbruchartigen Regengüssen, welche die abschüssigen Straßen der Stadt rasch in reißende Gießbäche verwandelten und den Verkehr lahmlegten. Die Luft war während dieser Monate feuchtheiß und furchtbar drückend, was nur der Vegetation zugutekam.
Schon einige hundert Meter höher allerdings, an den bewaldeten Berghängen, wurde es angenehm frisch, noch weiter oben war es oft regelrecht kalt und sehr windig. Häufig kam es wegen starken Regens zu Erdrutschen.
In der Ansiedlung selbst blieb in diesen Monaten der Hitze wegen ohnehin jeder anständige Mensch im Haus. Erst mit Anbruch der Dämmerung ging man hinaus. Dann liefen die Frauen in ihren mantos , jenen schwarzen Umhängen, oder in traditionellen indianischen Gewändern mit ihren Kindern als Erstes eifrig zur Kathedrale, einem neoklassizistischen Sakralbau, der zwischen 1847 und 1856 entstanden war und ein einfaches Holzkreuz als Symbol der Stadtgründung barg. Für Viktoria war dies anfangs befremdlich gewesen, so wie jener Anblick, den die schwarz verhüllten Frauengestalten boten, wenn sie wie ein riesiger Krähenschwarm nach der Messe wieder aus der Kathedrale hinausdrängten.
Die Frömmigkeit der Bewohner dieser Gegend war Viktoria gleich aufgefallen – und die Armut. Von Pedro hatte sie erfahren, dass sich die Mehrzahl der Einwohner Tucumáns und seiner Provinz ausschließlich von Mais, Reis, Kürbis, Orangen und Zuckerrohr ernährte. Außer Karren gab es kaum andere Fuhrwerke.
Wie auch Buenos Aires war Tucumán mehrfach gegründet worden, das zweite Mal 1685, als Zentrum des bereits im frühen 17. Jahrhundert von den Jesuiten eingeführten Zuckerrohranbaus. Zwar waren die Jesuiten 1767 des Landes verwiesen worden, doch noch immer waren die Niederungen der Region von Süßgrashalmen überzogen und die Tucumanos führten die Arbeit der Jesuiten fort. Das Zuckerrohr der großen Estancias wuchs auf von Kaktushecken umgebenen und mit Berieselungsanlagen versehenen Feldern. Einmal gepflanzt, wuchs das Rohr vier- bis
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