Die Lagune Der Flamingos
setzte sich darauf das Schauspiel fort, manchmal, wenn sich ein Hai näherte, von warnenden Rufen unterbrochen. Die Jungen brachten sich dann geschickt auf ihren Nussschalen in Sicherheit, während sich die Reisenden auf den Dampfern sensationslüstern an der Reling drängten.
An diesem Abend brauchte Marlena länger, um ihre Eindrücke zu formulieren. Wie hatten die einen nur zusehen können, wie die anderen ihr Leben aufs Spiel setzten? Und wie hatten die anderen ihr Leben für solch kleine, wertlose Münzen riskieren können? Das begeisterte Johlen und Kreischen hallte noch beim Einschlafen in Marlenas Kopf wider. Manchem Mitreisenden ging sie in den nächsten Tagen stoisch aus dem Weg.
Die Nordamerika legte am kommenden Morgen wieder ab und nahm schnell Fahrt auf. Irgendwann winkte bereits Brasiliens Küste herüber mit den imposanten Städten Salvador, Vitória und Rio de Janeiro und blieb die übrigen Tage die stete Begleiterin. Gesprächen entnahm Marlena Fantastereien über das, was die Menschen drüben glaubten zu erwarten. Fröhliches Lachen mischte sich mit Erzählungen von feuchten tiefgrünen Dschungelwäldern, bunten Vögeln und gefährlichen Wildkatzen. Da sich nun, nach langen Wochen auf See, die Reise ihrem Ziel näherte, begann die Besatzung mit einer intensiven Reinigung des Schiffes. Bald füllte sich die Luft mit dem Geruch von ätzender Seife, Lauge und verdunstendem Salzwasser.
Nach drei Wochen Fahrt über den weiten Atlantik wurden schließlich auch die Koffer wieder hervorgeholt und erfüllten die Kajüte der Familie Meyer-Weinbrenner mit ihrem dumpfen, modrigen Geruch. Bald stolperte man bei jedem Schritt fluchend über irgendeinen Gegenstand.
In Montevideo, bei schönem Wetter, gingen die ersten Reisenden von Bord. Vom Wasser aus bot die Stadt einen prachtvollen Anblick. Links der Bucht befand sich der zu Beginn des Jahrhunderts erbaute, fast hundertfünfzig Meter hohe Leuchtturm, unterhalb lagen eine Festung und andere imposante weiße Gebäude und Fabriken. An der rechten Seite, auf einer Landzunge, erhob sich, terrassenartig auf einem Hügel erbaut, die eigentliche Stadt mit ihren vielen Kirchen, Türmen und Villen. Auf dem Wasser herrschte allenthalben reges Leben. Viele Segel- und Dampfschiffe, von kleinen Booten umgeben, empfingen und löschten ihre Ladung. Unzählige Fischerboote, Schleppdampfer und Ruderboote bewegten sich zwischen ihnen hindurch.
Ein neuer Sonnenaufgang fand die Nordamerika auf dem Río de la Plata, dem Silberfluss, wie man den über zweihundert Kilometer breiten Mündungstrichter des Río Paraná und des Río Uruguay nannte, wieder. Hinter ihnen verblasste die Küstenlinie immer mehr. Marlena fand, dass es beinahe so aussah, als weile man immer noch auf dem Meer, so ungeheuer groß war diese Flussmündung. Allerdings stiegen die Wellen nur noch leicht an und glitten dann in trägerem Fall zurück. Das tiefe, satte Grün des Ozeans war über Nacht von einem seltsam silbern schimmernden Lichtgrau abgelöst worden. Wolkenfetzen jagten über den strahlend blauen Himmel.
Noch lag die argentinische Küste in weiter Ferne, doch bald schon kündete ein Salutschuss das Ende der Fahrt an. Die Nordamerika hielt auf der Reede von Buenos Aires, einige Seemeilen vom Land entfernt, da der La Plata zu seicht für Schiffe mit größerem Tiefgang war. Dann legte der kleine Dampfer mit den Beamten der Hafensanitätskommission backbord an, um das Patent der Nordamerika zu überprüfen. Da jedoch keine Krankheiten an Bord aufgetreten waren, drohte auch keine Quarantäne. Und so begann kurz darauf bereits die lästige Prozedur der Frachtüberladung und Passagierausschiffung.
»Es wird wirklich Zeit, dass Buenos Aires einen richtigen Hafen bekommt«, brummte ein älterer Herr.
Julius stimmte ihm zu. Anna jedoch dachte an nichts anderes mehr als daran, endlich ihre Schwester Lenchen, Maria und alle anderen wiederzusehen, die sie so lange vermisst hatte.
Sechstes Kapitel
Gedankenverloren stand Irmelind in ihrer Küche am Ofen und bereitete das Essen vor. Sie schreckte auf, als sich draußen Schritte näherten. Wer mochte das sein? Sie erwartete niemanden. Irmelind lief zur Tür und öffnete sie.
»Ach, du bist es, Mina. Entschuldige, dass ich so überrascht bin, ich sehe dich ja nur noch selten, seit …«, Franks Mutter stockte unvermittelt, »… seit du in der Stadt arbeitest«, beendete sie dann ihren Satz.
Doch Mina hatte verstanden. »Ich vermisse Frank auch«, sagte sie
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