Die Lagune Der Flamingos
sollten Sie zu Ihrer Verlobten zurückkehren«, sagte sie.
Sie hatte immer vermutet, dass er irgendwo eine Frau hatte. Warum war er sonst so zurückhaltend ihr gegenüber?
Er schaute sie nachdenklich an. »Ja, vielleicht sollte ich das.« Dann stand auch er auf und trat neben sie. »Kommen Sie, lassen Sie uns ins Dorf reiten, Señorita Blanca.«
Jens Jensens Zimmer im Hotel sah noch aus, wie er es verlassen hatte. Ringsherum waren Menschen getötet, Häuser eingerissen oder verbrannt worden. Hier, in diesen vier Wänden, stand die Zeit still. Er trat an den Waschstand und schöpfte sich lauwarmes Wasser ins Gesicht, rieb es dann mit einem frischen Handtuch trocken und blieb einen Moment stehen, das Gesicht im Tuch verborgen.
Ich habe zu viel Glück, schoss es ihm durch den Kopf, ich habe immer zu viel Glück gehabt, und ich habe es nicht verdient.
Ja, so war es doch, gestorben waren stets die anderen. Deshalb war seine Flucht aus Deutschland auch immer eine Flucht vor sich selbst gewesen. Kaum in Buenos Aires angekommen, war er weitergereist: nach Süden, nach Norden, nach Osten und Westen. Im Westen war das Land gebirgig. Zwischen Argentinien und Chile breitete sich die Wüste Atacama aus. Er hatte auch den Ojos del Salado gesehen, den höchsten Vulkan der Erde. Er hatte die Anden überquert, war durch wilde Gebirgstäler, tiefe Schluchten, durch vom Wind geformte Hochgebirgswüsten und sanftgrüne Flusstäler geritten, über kahle Ebenen hinweg, auf Höhen hinauf, wo riesige Stangenkakteen standen. In der Höhe wirkte das von grüngelben Grasfluren überzogene Gebirgsrelief wie in einen faltenreichen Samtmantel gehüllt. Er hatte alles Neue in sich aufgesaugt, um die Vergangenheit hinter sich lassen zu können.
Danach hatte er den Chaco bereist, der im Osten flach war, während Quellbäche die fruchtbaren Täler des Westens bewässerten, zumeist Nebenflüsse des Río Bermejo und Río Salado. Im Nordosten bildete der aus Bolivien kommende Río Pilcomayo die Grenze zu Paraguay. Unter einem endlosen tiefblauen Himmel war Jensen durch eine Salzwüste geritten. Niemals zuvor aber war ihm die Natur rauer erschienen, niemals verschwenderischer als in Patagonien. Er hatte atemberaubende Naturwunder gesehen und war zu Gast bei Indianern gewesen. Er wusste, was sie zu den Angriffen trieb, und hatte sich trotzdem der Armee angeschlossen. Damit er nur nicht anhalten musste, denn wenn er anhielt, dann kamen auch die verdammten Gedanken. Dann kam die Erinnerung, mit der er nicht umgehen konnte.
In der Armee hatte er als Berichterstatter, Hobbygeograf und Historiker gearbeitet. O Himmel, wo hatte er sich jetzt nur wieder hineingeritten? Sie hatte ihm gesagt, er solle zu seiner Verlobten zurückkehren, aber die Verlobung war längst gelöst, lange bevor er sich der Armee angeschlossen hatte. Er hatte viel zu viel Angst davor gehabt, stehen zu bleiben.
Jensen ließ das Handtuch sinken und starrte sich im Spiegel an. Das Haar stand ihm ungekämmt in alle Richtungen vom Kopf ab. Sein Hemd war rußverschmiert, ein Ärmel war gerissen. Er war sicher, dass er kreidebleich war, so fühlte er sich jedenfalls.
Ich liebe sie, schoss es ihm im nächsten Moment durch den Kopf, ich liebe Blanca wie eine Tochter, die ich … Er brach ab. Ich darf und will sie nicht verlieren.
Sie hatte im großen Schankraum bleiben wollen, gemeinsam mit den anderen, denen Angst und Schrecken im Gesicht geschrieben standen. Jensen blickte sich um. Die meisten waren Frauen. Hier und da wurden Verletzte behandelt. Jemand weinte. Jensen suchte weiter, doch er konnte Blanca nicht entdecken.
Heute stand Mamita, die Wirtin des Hauses, hinter der Bar und schenkte Rum aus. Carlito hatte er zuvor draußen gesehen, wo er mit anderen Männern damit beschäftigt gewesen war, den Schaden aufzunehmen. Jensen setzte sich an den Tresen. Mamita schob ihm ein Glas zu. Er trank nicht.
»Trinken Sie«, sagte Mamita, »es ist mein bester Schnaps. Heute gibt es ihn umsonst, weil wir überlebt haben.«
»Wo ist Blanca?« Jensen legte eine Hand um das Glas.
Der scharfe Geruch des Alkohols stieg ihm in die Nase, doch er trank immer noch nicht. Mamita hob selbst ein Glas an den Mund. Auch ihr war die Angst noch deutlich anzusehen. Wie viele von ihnen gestorben waren, wusste noch keiner.
»Hinausgegangen, sie wollte bei den Aufräumarbeiten helfen.« Mamita setzte an und leerte den Inhalt in einem Zug.
»Ah.« Jensen drehte sich um, war schon fast auf dem Weg nach
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