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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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erwiderte, danach verschwand ihre Nase wieder im Tempotaschentuch.
    Nach der Beerdigung zerstreute sich die Trauergesellschaft. Autotüren schlugen zu, und ein Wagen nach dem anderen verließ den Friedhof. Ich nahm lediglich das Knirschen der Reifen auf dem Kies wahr. Als das Schweigen wieder Alleinherrscher über diesen Teil der Welt war, murmelte Hans Mackenroth mir zu:
    Â»Es ist vorbei, Kurt. Lass uns gehen.«
    Â»Was ist vorbei?«, gab ich zurück.
    Â»Das, was einmal begonnen hat.«
    Â»Glaubst du, das ist so leicht?«
    Â»Nichts ist leicht im Leben, Kurt, aber man muss trotzdem damit zurechtkommen.«
    Ich warf einen letzten Blick in das Grab.
    Â»Du magst ja recht haben, Hans, aber niemand sagt dir, wie du damit zurechtkommst.«
    Â»Das kommt mit der Zeit.«
    Â»Das glaub ich dir nicht …«
    Resignierend hob Hans die Hände. Vermutlich hatte er einfach keine passende Antwort parat und sah ein, dass seine Unbeholfenheit alles nur noch komplizierter machen würde. Mit Sicherheit tat es ihm leid, dass er nicht die richtigen Worte fand, um mich zu trösten, und er ärgerte sich wohl über sich selbst, dass er nicht gleich geschwiegen hatte.
    Zu Hause warteten schon Emma, Claudia und einige Nachbarn auf mich. Zu meiner großen Überraschung war auch Wolfgang Brodersen da, mein Schwiegervater. In sich zusammengesunken saß er in einem Lehnstuhl in der Nähe des Balkons. Ich hatte gedacht, er sei bereits wieder nach Berlin gereist. Er erhob sich, stellte sein Glas auf einer Kommode ab, wartete, bis ich zu ihm kam, um die Balkontür zu öffnen, und bat mich, ihm auf den Balkon zu folgen. Zunächst betrachtete er den kupferfarbenen Himmel, als versuchte er, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, dann richtete er seinen durchdringenden Blick auf mich:
    Â»Wie konntest du zulassen, dass sie in ihrer Verzweiflung so weit ging?«, brach es aus ihm hervor.
    Â»Ich versichere dir, ich habe nicht das Geringste bemerkt.«
    Â»Das ist es ja, genau das ist es«, jammerte er. »Du hättest besser auf sie achtgeben müssen. Wärst du nicht mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, wäre diese Tragödie nie passiert. Es gibt doch untrügliche Anzeichen. Niemand begeht aus einer Laune heraus Selbstmord. Jessica hatte einen starken Charakter. Sie hätte sich von einem alltäglichen Ärgernis nie unterkriegen lassen. Sie war doch meine Tochter. Ich kannte sie besser als jeder andere. Sie verstand es, zu kämpfen und wieder aufzustehen … Was konnte sie nur auf eine so absurde und furchtbare Idee bringen?«
    Â»Ich weiß es auch nicht.«
    Â»Von einem Ehemann erwarte ich eine andere Antwort. Du warst der Mensch, der ihr am nächsten stand. Sie hat bestimmt irgendetwas gesagt oder getan, das dich hätte aufhorchen lassen müssen. Sie war nicht der Typ, der wegen einer Bagatelle in Panik geriet, und sie war intelligent genug, sich ihrem Ehemann anzuvertrauen. Wenn du nichts gemerkt hast, dann, weil Jessica al­lein­gelassen war mit ihrem Kummer. Du warst in Gedanken woanders, nehme ich an, und sie hat keinen Ausweg mehr gesehen als diese grauenhafte Tat.«
    Â»Was verstehst du schon davon?«, empörte ich mich angesichts solcher Unterstellungen.
    Â»Ich war auch einmal verheiratet. Und in meiner Ehe …«
    Â»Also bitte!«, fiel ich ihm ins Wort. »Jessica war meine Frau, und ich habe sie über alles auf der Welt geliebt. Ich verstehe ja deinen Schmerz, und der meine ist nicht geringer. Aber ich weiß nicht, was Jessica vor mir verborgen hielt. Bis heute weiß ich nicht, was sie hatte. Es vergeht keine Minute, in der ich mich nicht frage, warum sie das getan hat.«
    Wolfgang musterte mich schweigend. Sein Atem ging heftig und übertönte das Rauschen des Regens auf dem Balkon. Er lockerte seine geballte Faust. Auge in Auge stand er mir jetzt gegenüber:
    Â»Darf ich dir eine indiskrete Frage stellen?«
    Â»Nur zu, wenn wir schon dabei sind.«
    Â»Und du wirst mir offen antworten, von Mann zu Mann?«
    Â»Ich habe keinen Grund, dich anzulügen.«
    Er atmete tief durch, dann brach es aus ihm heraus:
    Â»Hast du Jessica betrogen?«
    Die Brutalität der Frage traf mich wie ein Blitz. Doch der Ton, in dem er seinen Verdacht aussprach, zerriss mir das Herz. So viel Leid, Verwirrung, Panik lagen darin, dass er mir plötzlich leidtat. Der Wolfgang, den ich kannte, der alte Haudegen,

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