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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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ihr eine Beförderung verweigert hatte! Das war unvorstellbar, unentschuldbar! Es war, als hätte Jessica sich gerade zum zweiten Mal umgebracht.
    Mein Haus verwandelte sich in eine Urne voll Nacht. Eine Nacht, die aus der Asche meiner verbrannten Erde, meiner verglühten Hoffnungen, meiner in Rauch aufgegangenen Verankerung bestand.
    Die Zeit schien stillzustehen. Um mich herum war die Welt wie geronnen. Ich stand morgens auf, mogelte mich durch den Tag und kehrte abends in das Labyrinth meines Hauses zurück, um mich dort vor den Geistern zu verkriechen, die mir nachstellten. Das Licht machte ich gar nicht erst an. Was hätten ein Deckenleuchter oder eine Stehlampe auch gegen die Finsternis vermocht, durch die ich hilflos tappte?
    In der Praxis fiel es mir schwer, mich auf meine Arbeit zu kon­zentrieren. Wie oft hatte ich schon die falschen Medikamente verordnet, bevor ich es einmal merkte oder von meinen Patienten darauf hingewiesen wurde? Emma sah, dass es so nicht weiterging … Also überließ ich die Praxis meiner Kollegin und Urlaubsvertretung, Doktor Regina Hölm, und fuhr nach Hause, um Koffer zu packen. Ich dachte, ein Aufenthalt auf dem Land, wo ich ein Wochenendhäuschen besaß, würde mir guttun. Ich hatte noch keine fünfzig Kilometer zurückgelegt, als ich umkehrte. Nein, niemals hätte ich die Kraft, mich der Einsamkeit in diesem niedlichen Natursteinhaus im Grünen auszusetzen – Jessicas und meinem Liebesnest auf einer waldigen Hügelkuppe, unserem Refugium, wenn wir am Wochenende dem Lärm und Gestank der Großstadt, den urbanen Ängsten und Zwängen entflohen, um aufzutanken und uns ungestüm zu lieben wie zwei Teenager. Es war ein idyllisches Fleckchen, unter hohen Bäumen verborgen; nur selten verirrte sich ein Wanderer dorthin, wo der Wind in den Blättern rauschte und unsere Sorgen fortwehte. Im Wohnzimmer gab es einen Kamin. Und ein Sofa, auf dem wir selbstvergessen dem Knistern des Holzfeuers lauschten, selig ineinander verschlungen. Nein, ausgeschlossen, dorthin zu fahren und so viele wunderbare Erinnerungen aufzuwirbeln.
    Für zwei Tage vergrub ich mich in meinem Haus. Ich ließ die Rollos unten. Machte kein Licht. Hängte das Telefon aus. Öffnete niemandem die Tür. Und fragte mich pausenlos, wie eine schöne, geliebte Frau, die eine sensationelle Karriere vor sich hatte, ihr Glück so gering achten und aus dem Leben scheiden konnte …? Wärst du nicht mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, wäre diese Tragödie nie passiert, so hatte Wolfgang mich ge­gei­ßelt. Seine Vorwürfe vertauschten die Rollen, vertauschten Schuldigen und Opfer, verwechselten Fehltritt und Strafe. Konnte es sein, dass Jessica mir ein Zeichen gegeben hatte, und ich hatte es übersehen? Hätte ich den Lauf der Dinge ändern können, wenn ich achtsamer gewesen wäre …?
    Eines Nachts bin ich dann einfach hinaus, um bei strömendem Regen durch die Straßen zu laufen. Ich irrte durch die breiten Alleen, an deren Kreuzungen sich die Ampeln zuzwinkern, trieb wie ein Besessener Bürgersteige und Plätze vor mir her, Neonschilder und blinkende Reklametafeln, leere Parkbänke und das mir vorauseilende Geräusch meiner Schritte. Vom Laufen erschöpft, bis auf die Knochen durchnässt, blieb ich irgendwo am Mainufer stehen und versenkte mich in den Anblick der im Fluss vibrierenden Lichtreflexe. Und selbst da noch, als ich schon dachte, ich hätte meinen Schmerz endlich einmal abgeschüttelt, stieg, dem Vergessen trotzend, aus den Fluten Jessicas Bild wieder auf, wie sie reglos in der Badewanne lag, und aus war es mit der vermeintlichen Ruhepause, die ich mir hatte gewähren wollen.
    Schlotternd und ausgelaugt ging ich nach Hause zurück, wickelte mich in eine Decke und wartete am Fenster auf den Tag. Und der Tag kam, ganz in Weiß drapiert, als wär’s ein Nachtgespenst.
    Â»Es wird Zeit, dass du dein Leben wieder in die Hand nimmst«, ermahnte mich Hans Mackenroth.
    Er hatte mehrfach an meine Tür geklopft. Als ich mich weigerte, ihm zu öffnen, hatte er mir mit der Polizei gedroht. Der Zustand, in dem er mich vorfand, schockierte ihn. Er stürzte gleich ans Telefon, um den Notarzt zu rufen, aber ich hielt ihn davon ab. Schimpfend schob er mich ins Badezimmer. Was ich im Spiegel entdeckte, erschreckte mich: Ich sah aus wie ein Zombie.
    Hans zog mich ins Wohnzimmer und zwang

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