Die Landkarte der Finsternis
extra ein schwarzes Kostüm angezogen. Ihre roten Augen verrieten, dass sie geweint hatte. Sie war so freundlich, mich nicht durch ein Ãbermaà an Beileidsbekundungen, die in der Regel eher unbeholfen ausfallen, in Verlegenheit zu bringen, und begnügte sich damit, uns Âetwas zu trinken zu holen.
Als die Nacht anbrach, waren wir noch immer so in Gedanken versunken, dass keiner von uns daran gedacht hatte, Licht anzumachen. Wir hatten den ganzen Tag über nichts gegessen, und unsere Gläser waren noch immer voll.
Ich bat Emma, sie möge doch nach Hause gehen.
»Meine Mutter kümmert sich um die Kinder«, beruhigte sie mich. »Ich kann gerne bleiben.«
»Das ist nicht nötig.«
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie ohne mich auskommen?«
»Es wird schon gehen, Emma.«
Bevor sie sich auf den Heimweg machte, erinnerte sie mich daran, dass ich ja ihre Handynummer habe und sie jederzeit anrufen könne. Ich versprach ihr, daran zu denken, und wandte mich Hans zu.
»Ich lasse dich auf keinen Fall allein«, erklärte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Dann rief er Toni an und bestellte uns etwas zu essen.
Es nieselte auf dem Friedhof, dem das Grau einen Anstrich düsterer Melancholie verlieh. Die Beerdigung fand auf einem von Kieswegen durchzogenen Rasenstück statt. Die Freunde, die gekommen waren, um Jessica zu ihrer letzten Ruhestätte zu geleiten, bildeten vor dem schwarzbraunen Grab ein dichtes Knäuel aus Mänteln und Regenschirmen. Wolfgang Brodersen, Jessicas Vater, starrte unablässig auf den Sarg, in dem seine Tochter lag. Er war erst am Vormittag aus Berlin angereist und hatte lieber das Bestattungsunternehmen kontaktiert, als mich anzurufen. An seiner distanzierten, wortkargen Art erkannte ich, dass er wütend war. Wir waren ohnehin nie auf einer Wellenlänge gewesen. Er war ein alter Militär, der nichts als Zucht und Ordnung kannte, wenig sprach und seine Meinung stets für sich behielt. Es war ihm damals schwergefallen zu akzeptieren, dass Jessica mich heiraten wollte. Er war auch nicht lange auf unserer Hochzeit geblieben. Ich erinnere mich nicht, ihn nach der Trauung noch im Restaurant gesehen zu haben. Er war Witwer, ein verstockter Einzelgänger, dem Hochzeiten und Feiern jeder Art zuwider waren. Die seltenen Male, als ich ihn mit Jessica in Berlin besuchte, machte er immer den Eindruck, als würden wir ihn stören. Ich hatte keine Ahnung, warum er mich nicht in sein Herz geschlossen hatte. Vielleicht sind Militärs einfach so. Da der Beruf sie häufig von der Familie trennt, umgeben sie sich mit einem Schutzschild, der sie wenig empfänglich für die Freuden des Familienlebens macht. Oder vielleicht tat er sich, einsam und besitzergreifend, wie er war, auch nur schwer damit, dass ich ihm den einzigen ihm nahestehenden Menschen weggenommen hatte, der ihm noch blieb. Allerdings habe ich ihm das niemals verübelt oder nach Entschuldigungen für sein Verhalten gesucht. Das hätte am Charakter unserer Beziehung nicht viel geändert. Es war einfach schade, mehr nicht. Er liebte Jessica. Obwohl es ihm widerstrebte, seine Gefühle zu zeigen, musste man nur den Blick sehen, mit dem er seine Tochter umfing, um zu begreifen, wie viel Zärtlichkeit er für sie empfand. Jessica vergötterte ihn. Trotz der übertriebenen Zurückhaltung ihres Vaters hatte sie kein Problem damit, ihm um den Hals zu fallen, sobald sie ihn erblickte. Während sie ihn abküsste, hielt er die Arme steif an den Leib gepresst und kämpfte mit sich, bevor er sie dann doch umarmte.
Unter den Freunden, die am Begräbnis teilnahmen, befand sich auch Hans Mackenroth. Von Zeit zu Zeit gab er mir ein kleines Zeichen seines seelischen Beistands. Hinter ihm stand Emma mit von der Kälte geröteter Nasenspitze fröstelnd unter ihrem Regenschirm, neben ihr verschwand Toni fast hinter seinem Mantelkragen. Rechts neben Hans schniefte Claudia Reinhardt, eine Kollegin von Jessica, mit tränenfeuchten Augen in ein Papiertaschentuch. Sie war eng mit meiner Frau befreundet gewesen und hatte fast mehr Zeit bei uns als mit ihrer eigenen Familie verbracht. Claudia war leicht zu begeistern und immer gutgelaunt. Sie war es gewesen, die Jessica überredet hatte, sich mit ihr zu einem Aerobic-Kurs in einem Fitnessclub anzumelden. Zaghaft lächelte sie mir zu, ein trauriges Lächeln, das ich mit einem leichten Nicken
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