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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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habe seit Tagen kein Auge mehr zugetan.«
    Â»Und mir gehen die Augen jetzt erst auf. Trotzdem sehe ich immer weniger klar.«
    Der Griff ihrer Hand um meine Finger verstärkte sich.
    Â»Du weißt, dass du immer auf mich zählen kannst, Kurt.«
    Â»Daran zweifle ich nicht. Ich danke dir. Du hast dich wunderbar um die Gäste gekümmert.«
    Â»Das ist das Mindeste.«
    Sie zog ihre Hand zurück und lehnte sich ans Geländer.
    Seufzend sagte sie:
    Â»Man denkt immer, man wäre auf alles gefasst, und wenn es dann eintritt, merkt man erst, wie falsch man lag.«
    Â»So ist das Leben.«
    Â»Es will mir nicht in den Kopf, dass Jessica das getan hat. Wegen einer Beförderung … Kannst du dir das vorstellen? Für ­einen Posten … Einen Posten, den sie früher oder später sowieso gekriegt hätte.«
    Ein Elektroschock hätte mich nicht stärker durchrütteln können! Beförderung? … Posten? … Was erzählte sie mir da? Wovon redete sie? Claudias erstickte Stimme machte mich auf einen Schlag hellwach.
    Â»Was für ein Posten? Was für eine Beförderung?«
    Claudia schaute mich entsetzt an.
    Â»Sie hat dir nichts davon erzählt?«
    Â»Mir wovon erzählt?«
    Â»Mein Gott! Ich dachte, du seist auf dem Laufenden.«
    Â»Bitte sag doch, was los ist!«
    Claudia war verwirrt. Sie wusste, sie war schon zu weit gegangen, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Ihre Augen flatterten, suchten nach einem Halt, doch ich hielt ihren Blick fest, bestand auf einer Erklärung. Ich packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. Mir war bewusst, dass ich ihr wehtat, aber ich ließ nicht locker.
    Â»Um Himmels willen, klär mich auf!«
    Sie erzählte in einem Ton, der vom Grund eines tiefen Grabens zu kommen schien:
    Â»Der Verwaltungsrat hatte ihr die Leitung der Abteilung für internationale Beziehungen versprochen. Jessica hat sich seit zwei Jahren um diesen Posten beworben. Sie wollte ihn um jeden Preis. Und sie hatte ihn mehr als verdient. Jessica war die treibende Kraft des Konzerns. Sie verausgabte sich schonungslos. Die wichtigsten Verträge der letzten Jahre hat sie ausgehandelt, mit großem Erfolg. Alle Kollegen waren sich darin einig, wie tüchtig sie war … Ich dachte, du wüsstest das alles.«
    Â»Erzähl weiter, bitte!«
    Â»Vor drei Monaten fing unser Vertriebsleiter plötzlich an, auch auf die Leitung der Abteilung für internationale Beziehungen zu schielen. Er ist ein skrupelloser Karrierist, der am liebsten drei Stufen auf einmal nimmt. Er wusste, dass Jessica einen großen Vorsprung hatte, und ließ nichts unversucht, sie einzuholen; er ging sogar so weit, einige Projekte zu torpedieren, nur um sie zu disqualifizieren. Ein gnadenloser Krieg brach aus zwischen Jessica und Franz Hölter, dem Vertriebsleiter. Am Anfang ging Jessica mit dieser Konkurrenz gelassen um. Sie beherrschte ihr Metier. Aber Franz schaffte es, den Generaldirektor auf seine Seite zu ziehen, und begann aufzuholen.«
    Â»Ging es Jessica deshalb in den vergangenen Wochen so schlecht?«
    Â»Ja, sie war sehr in Sorge. Franz lief zu Hochform auf. Ein ­gefährlicher Hai, der ständig auf der Lauer lag. Auf Schritt und Tritt deponierte er Bananenschalen. Jessica musste eines Tages einfach ausrutschen. Bei der letzten großen Verhandlung mit ­einer chinesischen Gruppe ist sie dann gescheitert, weil angeblich ein Ordner mit Unterlagen verschwunden war. Die Generaldirektion war außer sich. Und Jessica war klar, dass sie einen verhängnisvollen Fehler gemacht hatte. Vor einer Woche fiel die Entscheidung, und Franz bekam den begehrten Posten zuge­spro­­chen. Als ich Jessica trösten wollte, fand ich sie in Tränen aufgelöst in ihrem Büro. Sie war leichenblass. Sie sagte, ich solle sie in Ruhe lassen, und ging hinaus, um frische Luft zu schnappen. Das war so gegen neun. Sie kam nicht mehr zurück. Ich habe noch versucht, sie übers Handy zu erreichen, aber da war immer nur der Anrufbeantworter … Mein Gott! … Wie ungerecht!«
    Da brach das dünne Fundament, auf dem der letzte Rest Klarsicht beruhte, den ich noch hatte, vollends ein. Meine Kehle schnürte sich zusammen, ich brachte keinen Laut mehr heraus. Vor meinen Augen drehte sich alles. Ungläubig schwankte ich zwischen Wut und Empörung. Jessica hatte Selbstmord begangen, weil die Unternehmensleitung

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