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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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der aus nichts als Kruppstahl bestand, löste sich vor meinen Augen, auf dem Balkon, der sich jäh in ein Schlachtfeld verwandelt hatte, mehr und mehr auf. Ich war mir sicher, hätte ich ihn jetzt mit dem Finger berührt, ich hätte durch ihn hindurchstechen können wie durch Luft.
    Ich wartete, bis er wieder ein wenig Farbe angenommen hatte, dann erwiderte ich:
    Â»Nein … Ich habe Jessica nicht betrogen … Ich hatte keinen Grund, woanders zu suchen, wonach ich doch nur die Hand ausstrecken musste.«
    Seine Augen verdunkelten sich. Er stützte sich aufs Geländer und kämpfte mit den Tränen. Dann fing er sich wieder, nickte und sagte mit brüchiger Stimme:
    Â»Danke.«
    Er ging ins Wohnzimmer zurück und durchquerte die Diele. Vom Balkon aus sah ich, wie er das Haus verließ und die Straße entlanglief, ohne auf den Regen zu achten. Sein Gang war schwerfällig, er schleppte sich mühsam voran. Es war das erste Mal, dass ich ihn so sah, vollkommen am Boden zerstört, ihn, der sonst trotz seiner fünfundsiebzig Jahre seinen ganzen Ehrgeiz daransetzte, stets aufrecht in den Stiefeln zu stehen und bei jeder Gelegenheit den Eindruck zu machen, er könne sämtlichen Stürmen trotzen.
    Die Nachbarn und Kollegen fingen langsam an, sich zu verabschieden. Einer murmelte mir zu: »Ich bin mit ganzem Herzen bei Ihnen, Herr Doktor.« Das war nett, aber höchst unwahrscheinlich. Was wusste er schon von meiner Einsamkeit? Mein Schmerz war zu persönlich, um geteilt zu werden; er machte mich taub gegenüber Beileidsbekundungen – Floskeln ohne Substanz. Die Welt der Trauer ist eine Welt für sich, eine furchtbare Welt, in der die sanftesten Worte, die nobelsten Gesten sich als läppisch, unangemessen, linkisch erweisen, tödlich vor Nutzlosigkeit. Die kleinen Klapse des Mitgefühls, die man mir vergönnte und die wie Keulenschläge in mir dröhnten, machten mich rasend. Ich bin mit ganzem Herzen bei Ihnen, Herr Dok tor … Für wie lange? Wenn meine Gäste gegangen wären, würde mein Haus sich wie eine Faust um mich schließen; ich würde die Hand nach rechts und links ausstrecken, auf der Suche nach einer Stütze oder der Schulter eines Freundes, und doch nur ins Leere greifen.
    Als der Abend anbrach, saßen nur noch Hans, Emma, Claudia und ich im dunklen Wohnzimmer. Die beiden Frauen trugen die Gläser und Pappteller weg, die die Gäste überall hatten stehen lassen. Sie machten Ordnung im Wohnzimmer, stellten das Geschirr in den Schrank, brachten den Mülleimer hinaus, während ich von einem Zimmer ins andere ging, ohne zu wissen, warum. Wolfgangs Worte explodierten hinter meinen Schläfen … Hast du Jessica betrogen? … Hast du Jessica betrogen? … Würden sich unsere Wege jetzt, da Jessica nicht mehr lebte, wohl noch einmal kreuzen? Würden wir irgendwann Frieden mit­ein­ander schließen? Aber herrschte denn Krieg zwischen uns, dass wir einen wie auch immer gearteten Frieden anstreben konnten? Ich hatte das Gefühl, meiner Pflicht als Schwiegersohn nicht genügt, eine Gelegenheit verpasst zu haben, uns miteinander auszusöhnen … Ich riss mich zusammen. Was lud ich mir da noch auf? Ich war ein trauernder Witwer, warum mich noch dazu mit einer imaginären Schuld belasten? Selbst wenn ich Wolfgang gegenüber gefehlt haben sollte, gab es doch andere Prioritäten in meiner Trauer, sagte ich mir.
    Ich kehrte auf den Balkon zurück. Ich brauchte frische Luft. Die Kälte peitschte mir ins Gesicht. Ich beugte mich über die Brüstung und betrachtete die Rinnsale auf den Gehwegen. Von Zeit zu Zeit kam ein Auto vorbei. Wenn ich ihm hinterhersah, war mir, als nähme es einen Teil meiner Seele mit.
    Claudia gesellte sich zu mir, mit einem Glas in der Hand.
    Â»Trink doch was«, sagte sie. »Das wird dir guttun.«
    Ich nahm das Glas und führte es an meine Lippen. Der erste Schluck fühlte sich an wie glühende Lava, der zweite schüttelte mich von Kopf bis Fuß durch.
    Â»Du solltest etwas essen«, ermahnte sie mich. »Du hast nichts zu dir genommen, seit wir vom Friedhof zurück sind. Ich frage mich, wie du es schaffst, noch aufrecht zu stehen.«
    Â»Ich stehe auf dem Kopf.«
    Â»Kann ich mir vorstellen.«
    Â»Kannst du das?«
    Sie legte ihre Hand auf meine, eine Geste, die mir unangenehm war.
    Â»Es tut mir aufrichtig leid, Kurt. Ich

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