Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
Vom Netzwerk:
welche? Und für wen, für den Angreifer oder den Angegriffenen? Wie soll man sich auch an den Gedanken gewöhnen, dass man eine Person umlegen kann wie einen Baum? Dabei haben sie doch schon Tao ins Meer geworfen, als wär’s ein Zigarettenstummel, oder etwa nicht …? Ja, man stellt mitunter zu viele Fragen, wenn man sich selbst davon überzeugen will, dass das, was man sieht, keine Halluzination ist, dass der Alptraum, den man erlebt, ganz und gar real ist. Die Wahrheiten, um die man sich früher drückte, springen einen einfach so an; die Schicksalsschläge, von denen man dachte, sie seien nur für die anderen bestimmt, werden zu unseren eigenen, und das mit einer solchen Wucht, dass man sich selbst nur noch mit Mühe erträgt. Sind dies die Vorboten des Weltuntergangs, Zeichen der Auflösung einer Epoche, in der sich Obskurantismus und Moderne kreuzen, um Terminator-Androiden zu gebären und der Menschheit den schnellsten Weg zur eigenen Vernichtung zu weisen?
    Meine Entführer lachen jetzt nicht mehr. Sie mustern mich stumm, als wäre ich geradewegs aus dem Jenseits zurückgekommen. Ich kann das Funkeln ihrer Pupillen nicht länger ertragen und wende den Blick ab, weit über die beiden Fahrzeuge hinaus, die uns folgen, hinaus über den Staub, den sie aufwirbeln, bis dorthin, wo Himmel und Erde in einer feinen Linie verschmelzen, so hauchdünn wie der Faden, der mich am Leben hält … Am Leben? … Ja, lebe ich denn überhaupt? … Bin ich noch von dieser Welt …? Jäh überfällt mich die Gewissheit, dass ich ein Toter auf Abruf bin.
    3.
    Allmählich lichten sich Macchia und Dornengestrüpp, und je weiter der Konvoi ins Landesinnere vordringt, desto deutlicher kommt die Wüste zum Vorschein und verschlingt alle Vegetation. Wären da nicht die Raubvögel und einige wenige, vom Dröhnen der Pick-ups aufgescheuchte wilde Tiere, gliche die Landschaft gänzlich einem verlassenen Planeten von tödlicher Monotonie, auf dem die Erosion gnadenlos wütet und den eine sengende Hitze verbrennt. Eine Zackenkette aus spitzen grauen Zwerghügeln zieht sich wie die versteinerte Wirbelsäule eines prähistorischen Riesenmonsters durch die Ebene. Während im Norden eine endlose Geröllhalde ihren Schotter ausbreitet, bricht im Süden die Geländedecke jäh ab; das ganze ­Terrain ist von einem Gewirr ausgedörrter Flussbetten durchfurcht. Unvermittelt taucht, in den Schatten eines Berghangs geduckt und von Stacheldraht umzäunt, die Ruine eines Militärstützpunkts auf: das »Rückzugslager« unserer Entführer. Sie sind heilfroh, wieder in vertrauter Umgebung zu sein, zwar erschöpft und starrend vor Schmutz, aber gesund und unverletzt. Ein ramponiertes Tor führt auf einen Exerzierplatz, über den ein seit langem ausgemusterter Fahnenmast wacht. Beidseits des Platzes Soldaten­unterkünfte, niedrige Räume, manche völlig eingestürzt, andere mit halbverkohltem Mauerwerk, behelfsmäßig mit löchrigen Planen und Blechplatten gedeckt; ein Brunnen mit Seilrolle, auf dem Rand ein Gummieimer; eine Viehkoppel, auf der ein paar Ziegen Löcher in die Luft starren; eine Zisterne, die auf ihren Felgen vor sich hin rostet; ein LKW mit klaffender Motorhaube, daneben ein Motorrad, das mitsamt Beiwagen wohl direkt aus dem letzten Weltkrieg stammt; sodann ein vergitterter Verschlag und gleich gegenüber ein notdürftig getünchtes Rattenloch, an dessen Giebel ein nicht näher zu identifizierender Stofffetzen weht, den man als Flagge ausgibt: der Kommandoposten. Auf der Außentreppe erwartet uns schon eine Räuberbande – vermutlich die Leibgarde des Hausherrn; ein Dutzend höchst bizarrer Gestalten, alle bewaffnet, alle ­erstarrt in einer Habtachtposition, die martialisch sein soll, der es jedoch gewaltig an Glaubwürdigkeit fehlt. Manche stecken in Fallschirmjägeruniform mit Springerstiefeln und schräg übers Auge gezogenem Käppi, andere in verschlissener Zivilkleidung, ausgetretenen Basketballschuhen, Espandrillos oder Sandalen – alle führen sie die rechte Hand zum militärischen Gruß an die Schläfe, als ein krummbeiniger Offizier aus dem Kommandoposten tritt, um unseren Konvoi in Empfang zu nehmen.
    Moussa befiehlt seinen Männern auszusteigen, sich in Reih und Glied vor dem Posten aufzubauen und die Gewehre zu präsentieren. Der Offizier,

Weitere Kostenlose Bücher