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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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mit dem Finger an die Schläfe.
    Â»Ich halluziniere doch nicht. Ich habe gesehen, wie er sich bewegt. Er lebt noch … Sofort anhalten …«
    Auf dem Hügel vollführen die Geier mit ihren Flügeln einen regelrechten Totentanz. Und wieder glaube ich zu sehen, wie der Arm sich bewegt. Ich hechte zur Fahrerkabine und trommele gegen das Blech:
    Â»Ihr habt kein Herz! Ihr seid Monster! Anhalten, so haltet doch endlich an, ihr Barbaren …!«
    Joma bremst so heftig, dass der nachfolgende Jeep fast auf uns drauffährt. »Barbaren« … Das Wort ist mir so herausgerutscht. Ich kann es nicht zurücknehmen, und abschwächen kann ich es auch nicht mehr. Im selben Moment, in dem es das Gerumpel des Pick-ups übertönt, wird mir der blutige Ernst dieses Wortes bewusst, in dem Jahrhunderte voller Tragik mitschwingen, Jahrhunderte voll traumatischer Ereignisse. Nicht eine Sekunde lang habe ich es wirklich gedacht, aber ausgesprochen habe ich es – da war wohl ein unterbewusster Mechanismus am Werk. Und Joma, der es gehört hat, springt schon zu Boden, stürzt zur Ladefläche des Pick-ups, bekommt mich am Hemdkragen zu fassen und zerrt mich über die Seitenklappe zu sich herüber. Ich falle auf den Bauch, mit dem Gesicht zu Boden. Joma packt mich bei den Haaren und reißt mich hoch. Wilder Hass verzerrt seine Gesichtszüge.
    Mit Fußtritten stößt er mich, ohne ein Wort zu sagen, in Richtung Hügel.
    Â»Verdammt, was ist hier los? Wo bringt er ihn hin?«, höre ich Moussa rufen, der den Jeep an den Rand der Piste manövriert.
    Als wir vielleicht zwanzig Meter vom Hügel entfernt sind, zerquetschen mir Jomas Finger den Nacken, während er mich fragt:
    Â»Und? Wo siehst du hier einen Verletzten? Wo ist er jetzt, der arme Kerl, den wir Barbaren den Vögeln zum Fraß überlassen?«
    Die erwähnte formlose Masse erweist sich als Kadaver eines Schakals; und der vermeintliche Arm, den ich sich habe bewegen sehen, ist dessen Vorderlauf, über den sich gerade ein Geier hermacht.
    Â»Also bitte, wer hat hier Visionen?«
    Joma schießt einmal in die Luft, und die Geier schlagen kurz mit den Flügeln, ohne jedoch davonzufliegen. Sie sind viel zu ausgehungert, um ihr Festmahl im Stich zu lassen.
    Â»Und? Ist da irgendwo ein menschlicher Körper zu sehen, Herr Doktor?«
    Â»Nein.«
    Â»Wie bitte?«, antwortet er nur und hält eine Hand ans Ohr.
    Â»Es tut mir leid. Ich dachte …«
    Â»Was hast du gedacht? Dass da ein Mensch von Vögeln verhackstückt wird? Oder dass du von herzlosen Barbaren umgeben bist?«
    Â»Ich habe mich geirrt.«
    Â»Und zwar auf der ganzen Linie, du Milchgesicht, auf der ganzen Linie. Du hast keinen blassen Schimmer von unserem Kontinent … Du bist in Afrika, und in Afrika, da bist du der Barbar.«
    Â»Es tut mir leid.«
    Â»Du machst es dir zu leicht. Auf Knien wirst du dich entschuldigen bei mir. Ich hatte dich gewarnt: Wenn du nicht willst, dass ich dich zertrete, dann mach dich unsichtbar. Und jetzt wirf dich zu Boden und sag, dass es dir leidtut.«
    Ich reagiere nicht.
    Â»Auf die Knie, du beschissener Europäer, oder ich blas dir das Hirn aus dem Schädel!«
    Der Jeep vom Boss verlässt die Piste und hält auf uns zu.
    Der Koloss schiebt mir den Lauf seines Gewehrs unters Kinn. Ich gebe nicht nach. Ich habe keine Lust nachzugeben. Ich höre, wie Moussa irgendwelche Befehle schreit. Aber Joma, der vor Wut bebt und schäumt und dem fast die Augen aus den Höhlen treten, achtet nicht auf ihn. Der Jeep hält auf unserer Höhe an. Der Boss kommt mit ausgestreckten Armen herausgesprungen und redet beruhigend auf seinen Untergebenen ein.
    Â»Mach keinen Quatsch, Joma.«
    Â»Dieser Hurensohn soll endlich kapieren, dass der Kolonialismus der Vergangenheit angehört.«
    Â»Nimm deine Knarre weg.«
    Â»Nicht, bevor er nicht platt am Boden liegt!«
    Der Boss wagt sich keinen Schritt näher. Der Koloss hat den Finger am Abzug. Bäche von Schweiß rinnen ihm über die Stirn.
    Â»Runter auf die Knie!«
    Â»Tu, was er dir sagt!«, schreit Hans mir auf Deutsch zu. »Der Kerl ist nicht ganz dicht.«
    Ich kann weder schlucken noch mit der Wimper zucken. Aber Angst habe ich keine. Ich glaube, meine Nerven haben sich verabschiedet, denn ich habe kein Gefühl mehr für die drohende Gefahr. Bringen wir es zu Ende, denke ich nur. Diese Situation

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