Die Landkarte der Finsternis
in ruhigem Ton. »Es gibt hier keine Medikamente. Man nimmt, was man kriegen kann. Du solltest mir schon vertrauen, wenn du deinem Freund den Wundbrand ersparen willst.«
Widerstrebend, beinahe beschämt, dass ich nicht anders kann, als auf ein Quacksalberprodukt zurückzugreifen, fasse ich nach dem Beutel, zögere erneut. Bruno bittet mich, ihn machen zu lassen, und beugt sich, ohne auf meine Zustimmung zu warten, über Hansâ Wunde.
»Du wirst sehen, es wird ihm guttun«, verspricht er mir, um sein ungeniertes Eingreifen zu rechtfertigen und mein ärztÂliches Selbstwertgefühl nicht über Gebühr zu strapazieren.
Kaum ist Bruno mit der Behandlung fertig, taucht Joma im Türrahmen auf, er ist angetrunken. Sein Brustkorb verdunkelt die Türöffnung, und er muss den Kopf beugen, um sich hindurchzuzwängen. Er torkelt im Raum herum, stemmt die Hände in die Hüften und mustert mich, während die Muskulatur auf seiner nackten Brust heftig zuckt. Dann küsst er die Amulette, die seine Bizepse schmücken â zwei buntbestickte Ledertäschchen, die mit dünnen Riemen um beide Oberarme geknotet sind â, und schon legt er los:
»Du hast dich immer noch nicht bei mir entschuldigt!«, schnauzt er mich an, wobei er den Hals verdreht wie ein Ringkämpfer.
Der Widerwille, den er mir bisher eingeflöÃt hat, verwandelt sich jäh in ein ebenso ununterdrückbares wie lähmendes Unwohlsein.
»Du wirst es nicht glauben«, fährt er fort, »aber sogar die Barbaren haben so etwas wie Selbstachtung.«
Bruno versucht sich einzuschalten, aber der Koloss wedelt mit dem Finger vor seiner Nase herum:
»Du hältst dich da raus, sonst kannst du erleben, wie ich dir die Hämorrhoiden eigenhändig aus der Nase ziehe.«
Nachdem er Bruno in seine Schranken gewiesen hat, breitet Joma die Arme aus, hocherfreut, mich für sich allein zu haben:
»Wie kommst du überhaupt dazu, uns als Barbaren zu bezeichnen? Hast du uns irgendwo von einer Liane gepflückt oder vom Baobab heruntergeschüttelt? Ich möchte mal wissen, was uns in deinen Augen zu Barbaren macht? Der Krieg? Die Kriege, die ihr führt, sind schlimmer als jede Naturkatastrophe. Armut und Elend? Haben wir euch zu verdanken. Unsere Unwissenheit? Wie kommst du auf den Gedanken, du seist gebildeter als ich? Ich habe mit Sicherheit mehr Bücher gelesen als alle in deiner Familie, angefangen bei dir. Ich kenne Lermontow, Blake, Hölderlin, Byron, Rabelais, Shakespeare, Lamarck, Neruda, Goethe und Puschkin in- und auswendig«, redet er sich in Rage, während er die Namen an allen zehn Fingern aufzählt und seine Stimme immer lauter anschwillt ⦠»Also, Herr Doktor Krausmann, was macht aus mir einen Barbaren und aus dir einen Vertreter der sogenannten Zivilisation?«
Er schnaubt einmal heftig, dann legt er nach:
»Was siehst du denn eigentlich in mir? Ein Stück Finsternis, rabenschwarz bis ins WeiÃe meiner Augen hinein?«
»Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie beleidigt habe«, erwidere ich. »Das wollte ich wirklich nicht. Ich hätte jeden als Barbaren bezeichnet, der die Notlage eines anderen eiskalt ignoriert.«
»Nur dass ich keine Notlage ignoriert habe, Herr Doktor Krausmann, sondern einen verendeten Schakal.«
»Ich kann Sie gut verstehen.«
Ich erkenne meine eigene Stimme nicht wieder, bin wie hypnotisiert von dem mörderischen Blick, der mich durchbohrt. Im Zweifel, wenn jede Grenze zwischen Recht und Unrecht verschwimmt, wird die Angst zur gesteigerten Form der Kapitulation. Ohne mir klarzumachen, was ich hier tue, merke ich, wie ich die Waffen strecke. Ist es die Erschöpfung, der Hunger, der Wunsch, dass man mich endlich in Ruhe lässt? Oder alles zugleich? Mir ist es egal. Ich will mit diesem groben Klotz nicht diskutieren. Was für eine Diskussion sollte das auch sein? Und welche Lehre sollte man daraus ziehen? Man streitet nicht mit Typen, die es gewohnt sind, kurzen Prozess zu machen, und nur allzu gut wissen, dass niemand sie dafür zur Verantwortung ziehen wird. Bei solchen Leuten muss man einlenken können. Jeder Versuch, sie zur Vernunft zu bringen, ist zum Scheitern verurteilt; mit Argumenten ist ihnen nicht beizukommen. Joma ist nur ein Vollstrecker, und was sollte den Vollstrecker, auch wenn seine Autorität letztlich nur geborgt ist, denn an der resignierten Unterwerfung seines Opfers
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