Die Landkarte der Liebe
nicht, das zu sagen!«
Finn lieà den Kopf hängen. Seit Monaten hatte er eine Schuld mit sich herumgeschleppt, der er nicht gewachsen war. »Katie«, sagte er mit kläglicher Stimme, »ich muss wissen, wie Mia auf meine E-Mail reagiert hat.«
Er nahm das Tagebuch vom Nachttisch. Der meerblaue Stoff schimmerte in seinen Händen. Wie oft hatte er Mia mit dem Tagebuch gesehen â sie hatte es auf ihrem Weg durch Kalifornien auf den Knien balanciert, auf die Bodenplane ihres Zelts gelegt und im Schein der Taschenlampe ihre Notizen gemacht, sie hatte den Sand abgewischt, nachdem sie, auf einen Ellbogen gestützt, am Strand hineingeschrieben hatte.
»Es muss hier drin stehen«, sagte er. »Bitte, Katie, ich muss unbedingt wissen, was sie geschrieben hat.«
Kapitel 26
Mia
Bali, März
Mia saà vollkommen reglos da, kerzengerade aufgerichtet, das Haar wie ein dunkler Schal vor ihren Schultern, die nackten FüÃe auf der niedrigen Holzstange unter dem Computertisch. Nur ihre Augen bewegten sich, als sie Finns E-Mail ein zweites Mal las.
Dann blinzelte sie, und das brach den Bann. Plötzlich kam Bewegung in sie. Sie schob den Stuhl zurück, packte ihre Tasche, fuhr herum â das dunkle Haar schwang nach hinten â und stürzte aus dem Internetcafé.
Die Nacht war mild, die StraÃen waren voller Touristen, die Einheimischen warteten an ihren Marktständen. Mia schob sich mit gesenktem Blick durch die Menschenmenge. Eine hartnäckige Angst rotierte tief in ihrem Innern. Finns Warnung kreiste in ihren Gedanken, und mit jedem Schritt drehte sie sich schneller. Mia sah nicht auf ihre gebräunten FüÃe, auf die zarte Silberkette, die an ihrem Knöchel tanzte. Sie sah nur noch seine Worte, als hätten sie sich innen in ihre Lider eingebrannt: Pass bloà auf, Mia, sonst stehst du am Ende ganz allein da und fragst dich, wo Freunde und Familie sind. Wie dein Vater.
Ihr Atem ging stoÃweise, sie bekam nur mit Mühe Luft. Schwere Abgase und der süÃe Fäulnisgeruch von verrottendem Obst drangen ihr in den Rachen. Ein Mann mit einer Nelkenzigarette ging vorüber. Mia wich dem würzigen Geruch aus, der Bürgersteig schien sich zu neigen. Sie prallte gegen einen dünnen Jungen, der mit einem Jo-Jo spielte und sie mit groÃen Augen erstaunt ansah.
Mia begann zu laufen. Die StraÃe war uneben, tiefe Spurrillen erschwerten ihr das Vorwärtskommen. Unter einer Motorhaube lauerte ein argwöhnisches, katzenhaftes Augenpaar. Mia eilte weiter, vorbei an zerbrochenen Blumentöpfen und aufgeblähten Müllbeuteln. Dann bog sie in die kleine StraÃe ein, die zum Hostel führte. Sie stürmte an der Rezeption vorbei und den dunklen Korridor entlang.
Vor ihrem Zimmer blieb sie stehen. Harte Steine lagen ihr im Magen und zogen sie nach unten. Mia konnte nicht hineingehen, sie konnte nicht allein sein.
Noahs Tür war unverschlossen. Mia schlüpfte in die warme Dunkelheit und versuchte, sich zu beruhigen.
Noah fragte schläfrig: »Mia?«
»Ja.« Sanft schloss sie die Tür. »Alles in Ordnung, schlaf weiter«, flüsterte sie, zog sich die Schuhe aus und glitt neben ihn ins Bett. Ihr Herz raste. Wie gern hätte sie sich an seinen warmen Körper geschmiegt und ihr unruhiges Herz in seinem Rhythmus schlagen lassen.
Sie lag ganz still da, die Arme wie Flügel an den Seiten angelegt, nur ihr Knöchel berührte zaghaft sein Bein â es reichte, um sie zu verbinden. Er murmelte etwas â eine Frage, einen Einwand â, doch sie reagierte nicht und wartete, bis sein Atem tiefer wurde, bis der Schlaf Noah wieder in seine weichen Arme zog. Mia seufzte erleichtert. Ãber ihr drehte sich der Ventilator durch die warme Luft, und sie begann, die Drehungen zu zählen, damit sie nicht mehr denken musste.
Als Mia bei zweiunddreiÃig war, drang Finns E-Mail wieder in ihre Gedanken und krallte sich fest. Mia sah vor sich, wie Finn ihr die Nachricht schrieb, der Blick im fahlen Licht des Monitors erkaltet. Er hatte seine Worte mit Bedacht gewählt, sie bis auf die Knochen ausgezogen und ihre gröÃte Angst entblöÃt: zu enden wie ihr Vater.
Mia erkannte die bittere Wahrheit, die in seiner Warnung lag. Sie spürte, dass Harleys Leben auch durch ihre Adern floss. Er war unrettbar in eine Spirale der Selbstzerstörung geraten und hatte die Menschen vertrieben, die ihn
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