Die Landkarte der Liebe
gestreichelt und den Geruch von Feuer und Salz bewahrt. Finn hatte tief und fest geschlafen. Mia hatte den Pullover seither nur ein einziges Mal angezogen, in einer kühlen Nacht in Geraldton, als sie keine Ruhe gefunden hatte. Sie hatte sich aus dem Zelt geschlichen, sich in den alten Pullover eingewickelt und die Daumen durch die Löcher in den Ãrmeln gesteckt.
»Behalte ihn. Dir steht er sowieso viel besser.«
Vor ihnen in den Dünen glühte eine Zigarette. Die Gestalt eines Mannes zeichnete sich vor dem Dunkel ab â vielleicht jemand, der sich zu weit von der Strandparty entfernt hatte. Ansonsten war der Strand verlassen, was sehr verlockend war. »Wie lange bleibst du?«
»Ein paar Wochen. Ein Tiefdruckgebiet zieht auf Margaret River zu.«
»Die Weingegend?«
»Ja. Das ist ungewöhnlich für diese Jahreszeit, darum wollen wir uns das ansehen.«
»Finn und ich sind auch auf dem Weg dahin.«
»Ach ja?« Mia hoffte, dass das ein freudiges Erstaunen war.
Etwas schimmerte im Sand. Mia bückte sich. Es war eine Muschel, sie war ovalförmig, so groà wie ihre Hand, die Schale rau und knotig. Das Innere glänzte im Mondlicht wie Perlmutt. Mia fuhr sanft über glatte Stellen und kleine Erhebungen. »Was hier drin wohl gelebt hat?«
»Abalone â eine Art Seeschnecke. In Australien nennen wir sie Muttonfish. Zäh wie ein Lappen. Aber in Asien gilt sie als Delikatesse.«
»Wirklich?«
»Die sind total überfischt, wie alles, was ein Preisschild trägt. Als Abalone-Taucher kann man an einem einzigen guten Tag ein Vermögen machen.«
»Die Schale ist wunderschön.«
»Du hast Glück, hier eine in der GröÃe zu finden.«
Mia schaute auf. Der Mann, der in den Dünen gestanden hatte, kam auf sie zu. Seine dunkle Kleidung verschmolz mit der Nacht. Er blieb am Ufer stehen und drehte sich zu ihnen um. Sein starrer Blick war Mia nicht geheuer. Er führte einen Joint an den Mund und inhalierte kräftig; der schwere Geruch von Marihuana zog mit dem Wind heran.
»Schöner Abend, was?«, sagte er.
Sie blieben stehen.
»Habt ihr zwei was Nettes vor?«
»Nur ein kleiner Spaziergang«, erwiderte Noah leicht gereizt. »Ich dachte, du wärst noch auf der Party.«
»Ich war nicht in Partylaune.«
Der Fremde trat so nah auf Mia zu, dass sie seinen Atem riechen konnte. Er war nicht rasiert, seine Kleidung wirkte ungepflegt. »Und du bist?«
Ihre Finger klammerten sich um die Muschel. »Mia.«
»Und woher kommst du, Mia?«
»England.«
»Reizend.« Plötzlich kratzte er sich am Oberarm, als ob ihn etwas gestochen hätte. »Da Noah offenbar seine Manieren vergessen hat, muss ich mich wohl selbst vorstellen. Ich bin Jez, sein Bruder.«
Bruder?
Er steckte sich den Joint zwischen die Lippen und streckte ihr die Hand entgegen. Seine Finger waren knochig und schwielig.
Mia suchte nach Ãhnlichkeiten. Sein Haar wurde schon dünn, es wuchs in kleinen blonden Büscheln, und auch seine Lippen waren schmaler, doch die markante Stirn hatten sie gemeinsam.
»Und du bist eine Freundin von Noah?«
Sie zögerte. »Ja.«
»Was führt dich nach Australien?«
»Das Reisen.«
»Rauchst du, Mia? Lust, ân bisschen stoned zu werden?«
»Nein«, fuhr ihn Noah barsch an. »Wir müssen weiter. Wir sehân uns später.« Und damit zog er Mia fort.
Sie gingen schweigend weiter. Mia spielte noch immer mit der Muschel und wartete darauf, dass Noah etwas sagte. Als einige Minuten ohne ein Wort vergangen waren, fragte sie: »Das war also der Bruder, mit dem du unterwegs bist?«
»Ja.«
»Ist er älter als du?«
»Drei Jahre.«
»Der gleiche Unterschied wie bei mir und Katie. Wie ist er so?«
»Kifft zu viel.«
Sie sah Noah von der Seite an. Er hatte irgendetwas Verstörtes an sich. Sie hätte ihn gern noch mehr gefragt, doch in dem Moment sagte er: »Ich bring dich jetzt zum Essen.«
Mia wollte nicht, dass der Abend auf diese Weise endete. In Maui war sie einfach gegangen, hatte Noah bei der kalten Glut zurückgelassen und das Thema Telefonnummer oder E-Mail-Adresse nicht einmal erwähnt. Das war nicht ihre Art. Erst am nächsten Morgen, als sie aufgewacht war und an seinem Pullover gerochen hatte, hatte sie begriffen, dass sie diesen Mann nicht so einfach aus dem Kopf bekommen
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