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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Schnauben. Wenn er in diesem Augenblick an ein Mädchen dachte, dann an Claire, obwohl sie keine Schlitzaugen hatte und auch
     diese übernatürliche Biegsamkeit nicht besaß. Er dachte an seine Gefühle, während er sie besessen hatte, und fragte sich,
     was seine Kumpel, diese groben, ungeschliffenen Kerle, wohl denken würden, wenn sie entdeckten, dass es erhabenere und köstlichere
     Empfindungen gab als diese primitive Art, Lust zu empfinden, die sie kannten.
    Sie hielten eine Kutsche an und stiegen unter Lachen und Schubsen ein. Mike zwängte seinen massigen Leib neben Tom und quetschte
     ihn gegen die Tür, die Übrigen setzten sich ihnen gegenüber. Der Kutscher fuhr los, nachdem er von Jeff Anweisung bekommen
     hatte. Dieser rieb sich erwartungsvoll die Hände und schwatzte munter drauflos. Tom hatte keine Lust, in die überdrehte Fröhlichkeit
     einzustimmen, und schaute aus dem Fenster, an dem die zu so fortgeschrittener Stunde beunruhigend menschenleeren Straßen vorbeizogen.
     Dann merkte er, dass der Kutscher in die falsche Richtung fuhr: Dort ging es nicht zum Bordell, sondern zum Hafen.
    «He, Jeff, wir fahren in die falsche Richtung», rief er.
    Jeff Wayne wandte sich ihm zu, schaute ihn ernst an und ließ sein Lachen mit einem dunklen Laut in der Kehle ersticken. Bradley
     und Mike lachten auch nicht mehr. Eine seltsame, dichte Stille umfing sie, als hätte sie jemand aus dem Hafenbecken geholt
     und in der Kutsche verteilt.
    «Nein, Tom, wir fahren in die richtige Richtung», sagte Jeff und schaute ihn mit düsterem Lächeln bedeutsam an.
    |501| «Unsinn, Jeff», beharrte Tom. «Hier geht es doch nicht   …»
    Dann begriff er. Warum hatte er es nicht schon früher bemerkt: die aufgesetzte Freude; der Trinkspruch, der so verdächtig
     nach Abschiednehmen geklungen hatte; und wie steif sie da alle in der Kutsche hockten   … Nein, weitere Hinweise brauchte er nicht. In der Totenstille, die sich in der Kutsche breitgemacht hatte, beobachteten die
     drei ihn mit falscher Ruhe, gaben ihm Zeit, sich mit der Situation abzufinden. Und zu seiner Überraschung erkannte Tom, dass
     er jetzt, da das Ende gekommen war, nicht mehr sterben wollte. Er hatte keinen besonderen Grund, er wollte nur einfach nicht
     mehr. Nicht auf diese Weise. Nicht von der Hand dieser halbgaren Auftragsmörder, die letzten Endes nur die unbeschränkte Macht
     von Gilliam Murray demonstrierten, der mit seinem Geld jeden zum Mörder machen konnte. Wenigstens war Martin Tucker nicht
     dabei, der ihm immer als der Anständigste von allen vorgekommen war; er hatte sich offensichtlich nicht dazu durchringen können,
     beim fröhlichen gemeinsamen Morden mitzumachen.
    Enttäuscht von der Unbeständigkeit des menschlichen Charakters, stieß Tom einen tiefen Seufzer aus und betrachtete Jeff mit
     einem gewissen Maß an Ernüchterung. Sein Kumpel zuckte die Achseln und wies damit jede Verantwortlichkeit für das, was folgen
     würde, von sich. Er wollte gerade etwas sagen, vielleicht, so sei nun mal das Leben oder sonst einen Gemeinplatz, als Toms
     Stiefel ihn am Hals traf und ihn auf den Sitz zurückwarf. Jeff stieß ein dumpfes Röcheln aus, das zu einem hohlen Pfeifen
     wurde. Tom wusste, dass er ihn nicht kampfunfähig gemacht |502| hatte, aber sein Angriff war so blitzartig gekommen, dass alle überrascht waren. Bevor jemand reagieren konnte, hieb er Mike
     Spurrell, der verständnislos neben ihm saß, den Ellenbogen mit aller Kraft ins Gesicht, dass sein Kinn zur Seite flog und
     ein Spritzer Blut aus seinem Mund die Fensterscheibe der Kutsche beschmutzte. Ohne sich von Toms gewalttätiger Reaktion einschüchtern
     zu lassen, zog Bradley ein Messer und stürzte sich damit auf ihn. Er war zwar schnell und wendig, aber zum Glück war er auch
     der Schwächste von allen. Bevor das Messer ihn erreichen konnte, schnappte sich Tom den Arm des Jungen und verdrehte ihn,
     bis er das Messer fallen ließ. Und da sein Kopf sich nun dicht an Toms Bein befand, stieß dieser ihm so brutal das Knie ins
     Gesicht, dass der Junge wieder auf die Bank zurückgeschleudert wurde, wo er, heftig aus der Nase blutend, kraftlos zusammensank.
     In wenigen Sekunden hatte sich Tom mit einigen schnellen Bewegungen zum Herrn der Situation gemacht, doch fand er keine Zeit,
     sich zu dieser Aktion zu beglückwünschen, da Jeff wieder auf die Beine gekommen war und sich nun mit tierischem Gebrüll auf
     ihn stürzte. Durch den Aufprall wurde Tom gegen die

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