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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Kutschentür geworfen, deren Handgriff sich in seine Seite bohrte wie ein
     scharf geschliffener Dolch. Beide rangen verbissen in dem engen Innenraum, als Tom in seinem Rücken ein knarrendes Geräusch
     gewahrte und erst begriff, dass die Tür sich geöffnet hatte, als er in lächerlicher Umarmung mit Jeff durch die Luft segelte,
     während die Kutsche davonratterte. Der Aufschlag auf dem Boden nahm ihm den Atem, dann kugelten sie beide über den Boden und
     fanden dabei Gelegenheit, ihre groteske Umarmung zu lösen.
    |503| Als die Welt sich wieder stabilisierte, versuchte Tom mit schmerzenden Knochen auf die Beine zu kommen, derweil einige Meter
     weiter Jeff unter Fluchen und Stöhnen das Gleiche zu bewerkstelligen suchte. Tom erkannte, dass er es für kurze Zeit, bevor
     die anderen kamen, nur mit Jeff zu tun hatte und diese Situation nutzen musste. Aber Jeff war zu schnell. Noch bevor Tom ganz
     auf den Beinen war, warf sich Jeff mit voller Wucht auf ihn und riss ihn wieder zu Boden. Sein Rücken knackte an tausend Stellen,
     er umklammerte Jeffs Hände, die nach seinem Hals tasteten, dann gelang es Tom, sein Bein anzuwinkeln, den Fuß gegen Jeffs
     Brust zu drücken und ihn von sich zu stoßen. Tom kam mühsam hoch und näherte sich seinem Gegner. Die Kutsche hatte in einiger
     Entfernung angehalten, die offene Tür hing wie der verletzte Flügel eines Vogel in den Angeln, Bradley und Mike kamen herbeigestürzt.
     Tom rechnete sich aus, dass er gegen die drei keine Chance hatte und besser die Flucht ergriff. Also rannte er los in Richtung
     der belebten Straßen, fort aus der menschenleeren Hafenzone.
    Er wusste nicht, woher sein plötzlicher Überlebenswille kam, da er doch wenige Stunden zuvor noch den ewigen Schlaf des Todes
     herbeigesehnt hatte. Aber er rannte so schnell ihn seine schmerzenden Knochen und sein pumpendes Herz trugen, versuchte in
     der dunklen Nacht nicht die Orientierung zu verlieren. Das Getrappel der Verfolger im Ohr, bog er in die nächstbeste Straße
     ab, die sich unglücklicherweise als Sackgasse erwies. Tom verfluchte die Backsteinmauer, die ihm den Weg versperrte, und drehte
     sich langsam um. Die anderen erwarteten ihn am Eingang der Gasse. Jetzt würde der eigentliche Kampf beginnen, |504| sagte sich Tom, und schritt mit lockerer Gelassenheit auf die gedungenen Schläger zu, versuchte, nicht zu hinken, und ballte
     die Fäuste. Er hatte keine Chance gegen die drei, aber er würde sich nicht ergeben. Würde sein Wunsch nach Überleben stärker
     sein als ihr Wille, ihn zu töten?
    Als er sie erreichte, grüßte er sie mit einer spöttischen Verbeugung. Er hatte zwar nicht Shackletons Schwert in Händen, aber
     er spürte die verzweifelte Kraft seines Geistes in der Brust. «Immerhin», dachte er. Das fahle Licht der nächsten Laterne
     erhellte die Szene nur mäßig, ließ die Gesichter der Männer im Dunkeln. Niemand sagte etwas, Worte waren jetzt überflüssig.
     Auf ein Wort von Jeff begannen die anderen, Tom zu umkreisen wie Boxer, die den rechten Moment zum Schlagabtausch suchen.
     Da offenbar niemand anfangen wollte, nahm Tom an, dass sie es ihm überlassen wollten, den Kampf zu eröffnen. Bei wem sollte
     er anfangen? Er ging mit geballter Faust auf Mike zu, doch im letzten Moment vollzog er eine Drehung und traf den überraschten
     Jeff voll ins Gesicht, sodass dieser zu Boden ging. Aus den Augenwinkeln sah Tom, wie Bradley angriff. Er wich seinem Schlag
     aus und versetzte ihm, als er, aus dem Gleichgewicht gebracht, an ihm vorbeitaumelte, einen Fausthieb in den Magen, der ihn
     zusammenklappen ließ. Dann traf ihn jedoch Spurrell mit einem Schwinger an den Kopf, der die Welt ins Wanken brachte, seinen
     Mund mit Blut füllte und ihn alle Kraft kostete, um überhaupt auf den Beinen zu bleiben. Der Riese gönnte ihm keine Pause.
     Er setzte mit einem Kinnhaken nach, der Tom aufs Pflaster schickte. Dann traf ihn ein Fußtritt in die Rippen, dass sie bedenklich
     knackten. Tom erkannte, dass er verloren hatte. Der Kampf war vorbei. Der Hagel von Schlägen, |505| der nun auf ihn niederging, sagte ihm, dass auch Jeff und der Junge jetzt mitprügelten. Im wogenden Nebel seines Schmerzes
     entdeckte er neben sich auf dem Boden das Buch von Wells, das ihm aus der Tasche gerutscht sein musste. Claires Blüte war
     aus den Buchseiten herausgefallen und lag jetzt im Schmutz der Straße, ein blassgelber Schimmer, der jeden Moment verlöschen
     konnte, genau wie sein Leben.

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