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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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verändern können. Innerhalb des Programms zur Ausbildung von Zeitreisenden hatte die Regierung eine hochgeheime
     Elite gebildet. Ihre Aufgabe bestand darin, das Weltwissen ins Oligozän zu transportieren. Wie Sie vermutlich geahnt haben
     werden, bin ich einer von ihnen. Auf zahllosen Reisen errichteten wir das Sanktuarium des universalen Wissens, das auch zu
     unserer Heimstatt wurde, da wir den größten Teil unseres Lebens darin zubrachten. Inmitten endloser Prärien unberührten Graslandes,
     das zu betreten uns wie eine Sünde vorkam, würden wir leben und Kinder haben, denen wir unsere Fähigkeiten weitergaben, damit
     auch sie sich durch die Zeit bewegen und über die Menschheitsgeschichte wachen konnten, die in jenem Erdzeitalter begann und
     in dem Augenblick endete, als die Regierung den Restaurationsplan annullierte. Ja, Gentlemen, an der Stelle endete unsere
     Zuständigkeit. Die Zeit danach wird nicht mehr überwacht, da man davon ausgeht, dass sie eventuelle Modifikationen verkraftet.
     Die Vergangenheit jedoch ist und bleibt unantastbar. Jedwede Veränderung ihres Gefüges ist ein Verstoß gegen die natürliche
     Ordnung der Zeit.»
     
    Der Zeitreisende verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete seine Gäste mit wohlwollendem Blick. Seine Stimme klang
     begeistert, als er fortfuhr:
    |620| «Der Ort, an dem die Erinnerung der Welt aufbewahrt wird, heißt bei uns die Bibliothek der Wahrheit, und ich bin einer der
     Bibliothekare, dem die Beaufsichtigung des 19.   Jahrhunderts obliegt. Dazu bewege ich mich mit kleinen Zeitsprüngen, die manchmal nur Dekaden auseinanderliegen, vom Oligozän
     bis hierher und stelle so fest, ob alles seine Ordnung hat. Das ist, wie Sie sich vorstellen können, eine mühsame Arbeit,
     sogar für mich, der ich mit einem Zeitsprung Tausende von Jahren überbrücken kann. Immerhin muss ich über zwanzig Millionen
     Jahre zurücklegen, und die Bibliothekare, denen die Überwachung der Zeit obliegt, die für Sie die Zukunft ist, müssen noch
     größere Entfernungen bewältigen. Aus diesem Grunde wurden entlang der Zeitlinien, denen wir folgen müssen, sogenannte Nester
     eingerichtet; das ist jetzt ein dichtes Netz von Häusern und Plätzen, in denen wir absteigen und ausruhen können, um dem ewigen
     Reisen ein wenig von seiner Beschwernis zu nehmen. Dieses Gebäude hier ist so ein Versteck. Einen besseren Ort, da werden
     Sie mir zustimmen, als ein seit Jahrzehnten unbewohntes Haus, das bis zum Ende des Jahrhunderts unbewohnt bleiben wird und
     zudem noch als Spukhaus verrufen ist, in das sich kein Neugieriger verirrt, hätten wir nicht finden können.»
    Marcus schwieg und gab ihnen zu verstehen, dass er ans Ende seiner Ausführungen gekommen war.
    «Und ist Ihnen in unserer Zeit etwas Unnormales aufgefallen?», fragte Stoker belustigt. «Haben Sie mehr Fliegen gezählt, als
     es eigentlich geben dürfte?»
    Der Zeitreisende lachte über den Scherz des Iren, doch sein Lachen geriet ein wenig düster.
    «Irgendeine Unregelmäßigkeit findet sich immer», |621| brummte er. «Eigentlich ist meine Arbeit recht unterhaltsam. Gerade im 19.   Jahrhundert haben die Zeitreisenden allerhand Verwirrung gestiftet, was vielleicht daran liegt, dass die zu beobachtenden
     Folgen vergleichsweise ungewöhnlich sind. Und ich kann so viel entwirren, wie ich will, beim nächsten Besuch ist wieder nicht
     alles so, wie ich es gerichtet habe. So natürlich auch dieses Mal.»
    «Was ist denn nicht so, wie es sein soll?», fragte James.
    Wells entging die Wachsamkeit in der Stimme des Amerikaners nicht; als wäre dieser gar nicht sicher, ob er die Antwort kennen
     wollte.
    «Es wird Sie vielleicht überraschen, Gentlemen, aber Jack the Ripper hätte nicht verhaftet werden dürfen.»
    «Ist das Ihr Ernst?», fragte Stoker.
    Marcus nickte.
    «Ich fürchte ja. Ein Zeitreisender hat seine Verhaftung ausgelöst, indem er der Bürgerwehr von Whitechapel einen Hinweis gab.
     Nur dank dieses ‹Zeugen›, der es vorgezogen hat, anonym zu bleiben, konnte Jack the Ripper gefasst werden. In Wirklichkeit
     hätte das nicht passieren dürfen. Hätte es keinen Zeitreisenden gegeben, wäre Bryan Reese, auch bekannt als Jack the Ripper,
     nachdem er am 7.   November 1888 die Prostituierte umgebracht hat, mit seinem Schiff in Richtung Karibik abgedampft, wie er es beabsichtigt hatte.
     Dort wäre er seinem blutigen Hobby noch eine Weile nachgegangen, hätte in Managua mehrere Frauen umgebracht, was

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