Die Landkarte der Zeit
unerfreulich werden und Ihre naive Fiktion, Mr. Wells, bei weitem übertreffen. Stellen Sie sich vor, welchen Nutzen Reisen in die Vergangenheit für die Menschheit haben könnten.
Zum Beispiel ließe sich die Pestepidemie ungeschehen machen, die allein in London hunderttausend Tote forderte, bevor sie
– Ironie des Schicksals – durch den Brand von 1666 erstickt wurde.»
«Oder man könnte die Bücher aus der Bibliothek von Alexandria retten, bevor sie ein Raub der Flammen werden», schlug James
vor.
Marcus lächelte nachsichtig.
«Ja, es gäbe Dinge sonder Zahl zu tun. Zuerst einmal bildete die Regierung mit Zustimmung des Volkes einen Rat aus Wissenschaftlern
und Gelehrten, der diesen ganzen Katalog von Verirrungen, den die Vergangenheit darstellte, analysieren und herausfinden sollte,
welche Ereignisse |617| daraus gelöscht zu werden verdienten und welche Auswirkungen dies auf das Zeitgefüge haben würde, denn man wollte ja auch
nicht riskieren, dass sich die Dinge verschlimmerten. Wie es aber nie für alle zur rechten Zeit regnet, meldeten sich auch
hier sogleich Stimmen gegen das Restaurationsprojekt, wie es genannt wurde. Die unbekümmerte Manipulation der Vergangenheit
wurde von vielen als unethisch betrachtet, und ein Teil der Bevölkerung versuchte das Projekt um jeden Preis zu stoppen. Diese,
sagen wir konservative, Fraktion gewann mehr und mehr Zulauf und vertrat die Meinung, die Irrtümer der Geschichte müssten
wohl oder wehe akzeptiert werden. Für die Regierung wurde es immer schwerer, das Projekt fortzusetzen, und es starb endgültig,
als sich die Zeitreisenden aus Furcht, zum Ziel einer neuen Xenophobie zu werden, massenhaft und in chaotischer Flucht in
die Weiten der Zeit absetzten, was sogleich höchsten gesellschaftlichen Alarm auslöste, da die Vergangenheit jetzt als eine
Art knetbare Masse angesehen wurde, die jeder nach Belieben formen konnte. Mit einem Mal stand die Geschichte der Menschheit
auf dem Spiel.»
«Aber wie kann man wissen, ob jemand die Vergangenheit manipuliert, wenn dadurch auch unsere Gegenwart verändert wird?», wollte
Wells wissen. «Wir werden nie erfahren, ob jemand an der Geschichte herumfummelt; wir können nur die Konsequenzen erleben.»
«Klug gesprochen, Mr. Wells», sagte Marcus aufrichtig überrascht. «Es liegt in der Natur der Zeit, dass die Auswirkungen einer Änderung der Vergangenheit
sich den gesamten Zeitstrom entlangziehen und unterwegs ebenfalls alles verändern, so wie die Wellen eines in einen Teich
geworfenen |618| Steins die Oberflächenstruktur des Wassers verändert. Es ist, wie Sie sagen: Wir würden eine Manipulation niemals feststellen
können, da sowohl unsere Gegenwart als auch unsere Erinnerungen von diesen Wellen erfasst würden.» Der Anflug eines boshaften
Lächelns zeigte sich auf seinen Lippen. «Es sei denn, wir verfügten über eine Sicherheitskopie von der Welt, wie sie war,
und könnten vergleichen.»
«Eine Sicherheitskopie?»
«Ja. Aber nennen Sie es, wie Sie wollen», erwiderte der Zeitreisende. «Ich meine eine Sammlung von Büchern, Zeitungen und
ähnlichem Material, in dem die Geschichte der Welt bis zum gegenwärtigen Augenblick festgehalten ist. Eine Art Abbild der
Erde, das uns jede noch so geringe Abweichung sofort verraten würde.»
«Verstehe», murmelte Wells.
«Daran arbeitete die Regierung, seit die ersten Zeitreisen bekannt wurden; niemand sollte die Vergangenheit manipulieren können,
zumindest nicht ohne ihr Wissen. Aber es gab eine nicht zu übersehende Schwierigkeit. Wo sollte dieses Zeitgedächtnis aufbewahrt
werden, und zwar so, dass es vor den zerstörerischen Wellen verschont blieb, die von möglichen Veränderungen ausgingen?»
Die Schriftsteller sahen ihn fragend an.
«Es gab nur einen Ort, der in Frage kam», beantwortete der Zeitreisende seine eigene Frage. «Der Anfang der Zeit.»
«Der Anfang der Zeit?», fragte Stoker.
Marcus nickte.
«Das Oligozän, die dritte Phase der Tertiärzeit im Känozoikum, um genau zu sein, als der Mensch noch nicht |619| seinen Fuß auf die Erde gesetzt hatte und die Welt von Rhinozeronten, Mastodonten, Wölfen und den ersten Primaten bevölkert
war. Eine Zeit, in die selbst der begabteste Zeitreisende nur durch eine Vielzahl von Sprüngen gelangen konnte, mit allen
Gefahren, die das für ihn barg, und in die zu reisen daher kein Mensch ein Interesse hatte, zumal es dort nichts gab, das
man hätte
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