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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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jedoch wegen
     der Entfernung niemals mit den ermordeten Huren aus dem East End in Zusammenhang gebracht worden wäre. Und so wäre Jack the
     Ripper einfach aus der Menschheitsgeschichte verschwunden und hätte das Geheimnis seiner Identität mit |622| ins Grab genommen. Ein Geheimnis, das zu einem der größten Rätsel der Welt werden sollte, über das so viel Tinte vergossen
     wurde, wie sein Messer Blut hatte fließen lassen, und das noch die Kriminalisten des nächsten Jahrhunderts in Atem halten
     würde. Es wird Sie vielleicht überraschen, zu hören, dass sogar das Königshaus ins Visier der Ermittler geraten ist. Offenbar
     wird jedem ein Motiv zugetraut, um eine Handvoll Huren auszuweiden. In diesem speziellen Fall lässt die Volksphantasie die
     Realität weit hinter sich. Ich nehme an, der Zeitreisende, der die Veränderung herbeigeführt hat, war nur neugierig auf die
     wahre Identität des Ungeheuers von Whitechapel. Und wie Sie ganz richtig gefolgert haben, Mr.   Wells, ist die Veränderung des Zeitgeschehens nur deshalb nicht bemerkt worden, weil Sie, wie alle Welt, Opfer von deren Wirkungswellen
     geworden sind. In diesem Fall jedoch kann die Änderung leicht rückgängig gemacht werden. Man muss nur in die Nacht des 7.   Novembers zurückreisen und verhindern, dass der Zeitreisende die Bürgerwehr unter George Lusk benachrichtigt. Das mag Ihnen
     nicht richtig erscheinen, das will ich nicht diskutieren, aber ich muss es trotzdem verhindern, denn, wie gesagt, jede Manipulation
     der Vergangenheit stellt ein Vergehen dar.»
    «Wollen Sie damit andeuten, dass wir uns in einem   … Paralleluniversum befinden?», fragte Wells.
    Marcus schaute ihn wieder überrascht an, dann nickte er.
    «In der Tat, Mr.   Wells.»
    «Was, zum Teufel, ist ein Paralleluniversum?», fragte Stoker.
    «Der Begriff wird erst im nächsten Jahrhundert gebräuchlich |623| werden, wenn Zeitreisen nur noch als Hirngespinste von Schriftstellern und Physikern gelten», erklärte Marcus, der Wells immer
     noch erstaunt ansah. «Paralleluniversen werden als ein Weg angesehen, zeitliche Paradoxien zu vermeiden, die entstehen könnten,
     wenn die Vergangenheit etwas Unveränderliches wäre. Was wäre zum Beispiel, wenn jemand in die Vergangenheit reist und seine
     Großmutter umbringt, bevor diese seine Mutter zur Welt bringen kann?»
    «Dann würde er nicht geboren werden», warf James ein.
    «Es sei denn, die Großmutter wäre nicht die leibliche Mutter seiner Mutter, was dann eine komische Art wäre, herauszufinden,
     dass er ein angenommenes Kind ist», scherzte Stoker.
    Der Zeitreisende überging die Bemerkung des Iren und fuhr in seiner Erklärung fort:
    «Wenn er aber nicht geboren wird, wie kann er dann seine Großmutter umbringen? Viele Physiker meiner Zeit sehen die einzige
     Lösung dieses Paradoxons darin, dass Dinge, die unsere Vergangenheit entscheidend verändern, eine Parallelwelt erzeugen müssen.
     Das heißt, nachdem er seine Großmutter getötet hat, verschwindet der Mörder nicht, wie es logisch wäre, sondern er lebt weiter,
     aber in einer anderen Welt, einer anderen Wirklichkeit, die dem Zweig seines Universums in dem Augenblick entsprießt, in dem
     er den Abzug betätigt und damit das Schicksal seiner Großmutter umlenkt. Es bleibt eine Theorie, die sich nie beweisen lassen
     wird, auch wenn Zeitreisen einmal alltäglich werden, denn ob Veränderungen der Vergangenheit Parallelwelten schaffen oder
     nicht, kann man nur herausfinden, |624| wenn man eine Kopie der Originalvergangenheit besitzt, wie ich Ihnen vorhin erklärt habe. Besäßen wir keine, würde ich jetzt
     nicht hier stehen und Ihnen von dem Rätsel der Identität Jack the Rippers erzählen, denn es gäbe dieses Rätsel nicht.»
    Wells nickte schweigend, während Stoker und James einander verwirrt ansahen.
    «Aber bitte, folgen Sie mir, Gentlemen. Ich zeige Ihnen etwas, das Ihnen einiges klarer erscheinen lassen wird.»

|625| XXXIX
    Mit einem belustigten Lächeln auf den Lippen stieg der Zeitreisende die Treppe hinauf. Nach kurzem Zögern folgten ihm die
     drei Schriftsteller, eskortiert von den beiden Männern mit Gewehren. Im oberen Stockwerk führte Marcus sie in ein Zimmer,
     in dem ein Regal voller verstaubter Bücher eine ganze Wandseite einnahm und das restliche Mobiliar aus zwei wackligen Stühlen
     und einem durchhängenden Bett bestand. Wells fragte sich unwillkürlich, ob Sir Robert Warboys, Lord Lyttleton und wie die
     Draufgänger

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