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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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mitfühlend, ließ sich jedoch in seinen Erklärungen nicht aufhalten.
    |614| «Man weiß nicht genau, wer der erste Zeitreisende gewesen ist, das heißt der erste Mensch, der eine Zeitversetzung erlebte,
     wie das damals genannt wurde, denn solche Fälle traten nur vereinzelt auf. Ein annähernd genaues Verzeichnis genannter Erscheinungen
     verdanken wir tatsächlich esoterischen Zeitschriften und sonstigen Publikationen, die sich mit paranormalen Phänomenen beschäftigen.
     Es gab zwar immer wieder Meldungen über Menschen, die von einem Fremdzeiterlebnis berichteten, doch wiederum nicht so häufig,
     als dass sie ins Bewusstsein der Massen vorgedrungen wären. In der Mitte unseres Jahrhunderts wurde die Welt dann von einer
     wahren Flut von Zeitreisenden überschwemmt, von denen kein Mensch wusste, woher sie kamen. Offenbar konnten einige Menschen,
     wenn sie Grenzsituationen ausgeliefert waren, bestimmte Bereiche ihres Gehirns aktivieren, die sie wie durch Zauberkraft aus
     der Gegenwart rissen und in eine näher oder ferner gelegene Zukunft oder Vergangenheit beförderten. Es waren nur wenige, und
     sie konnten ihre Fähigkeiten nicht kontrolliert einsetzen; trotzdem verfügten sie über ein ganz offensichtlich nicht ungefährliches
     Talent. Wie Sie sich vorstellen können, hatte die Regierung nichts Eiligeres zu tun, als Menschen mit dieser Gabe zusammenzubringen,
     sie eingehend zu untersuchen und darauf zu trainieren, ihre Gabe in einer kontrollierten Umgebung zu perfektionieren. Es erübrigt
     sich wohl zu sagen, dass die Teilnahme an diesem Projekt nicht freiwillig war. Welche Regierung hätte es zulassen können,
     Menschen mit einer solchen Fähigkeit frei herumlaufen zu lassen? Nein, der
Homo temporis
, wie er genannt wurde, musste unter Aufsicht gestellt werden. Weitere Untersuchungen ergaben |615| dann zum Beispiel, dass jene Zeitversetzten sich nicht mit einer konstanten Geschwindigkeit im Zeitstrom bewegten und erst
     bei erschöpfter Impulsenergie an einem bestimmten Punkt zum Stillstand kamen, wie das bei der Zeitmaschine von Mr.   Wells der Fall war, sondern dass sie von einem Augenblick zum anderen in der Zeit versetzt wurden, wie mit einem Sprung ins
     Nichts, wobei sie nur die Richtung in die Zukunft oder in die Vergangenheit bestimmen konnten. Das alles rein intuitiv, genau
     wie den Sprung selbst. Bei allen jedoch konnte man beobachten, dass ihre Erschöpfung umso größer war, je weiter sie sich in
     der Zeit fortbewegt hatten. Manche brauchten Tage, um sich zu erholen; andere schafften es überhaupt nicht und verfielen in
     einen komatösen Zustand, aus dem sie nie mehr zurückfanden. Man entdeckte auch, dass sie mit großer Konzentration Gegenstände
     durch die Zeit transportieren konnten, ja sogar andere Menschen, obwohl das doppelt kräftezehrend war. Nachdem nun der mentale
     Mechanismus, mit dessen Hilfe man sich durch die Zeit bewegen konnte, im Wesentlichen erkannt war, galt es jetzt herauszufinden,
     ob man die Vergangenheit verändern konnte oder ob sie unverrückbar feststand. An dieser Frage hatten sich schon hitzige Debatten
     entzündet, bevor Zeitreisen Wirklichkeit geworden waren; jetzt galt es Antworten darauf zu finden. Es gab Physiker, die behaupteten,
     wenn wir in die Vergangenheit reisten, um zum Beispiel jemanden zu erschießen, würde uns die Pistole in der Hand explodieren,
     sobald wir den Abzug betätigten. Das Universum verfüge über eine autoregenerative Kraft, eine Art Selbstbewusstsein, das auf
     Kohäsionserhalt abziele und verhindere, dass jemand getötet wurde, der nie getötet worden war. Doch |616| nach mehreren Experimenten unter strenger staatlicher Aufsicht, in denen winzige Veränderungen in der jüngsten Vergangenheit
     vorgenommen wurden, stellte man fest, dass die Zeit verwundbar war. Die Geschichte, so wie sie stattgefunden hatte, konnte
     komplett umgeschrieben werden. Wie Sie sich vorstellen können, war diese Entdeckung von größerer Wirkung als die Zeitreisen
     selbst. Plötzlich lag es in der Hand des Menschen, die Vergangenheit nach Belieben zu verändern. Kein Wunder, dass ein Großteil
     von ihnen dies als
carte blanche
betrachtete, die Gott den Menschen gegeben hatte, damit sie seine Fehler korrigieren konnten. Da hieß es natürlich, die Kriege
     und Seuchen der Vergangenheit ungeschehen zu machen, das Unkraut mit der Wurzel auszureißen, wenn man so will, denn alles,
     was in Zukunft noch geschehen wird, Gentlemen, wird mehr als

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