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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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nur das: Der Sessel verfügte
     auch, wie William den detaillierten Zeichnungen Sidneys entnehmen konnte, über weitere Ergänzungen wie ein eingebautes Wasserschälchen
     samt Schwamm, sodass der Leser seine Lektüre nicht unterbrechen musste, um aus dem Sessel aufzustehen. Sidney |174| war überzeugt, dass die Erfindung sie reich machen würde, doch William war sich da nicht so sicher. Offenbar hatte sein Schwager
     persönliche Vorlieben und allgemeine Bedürfnisse durcheinandergebracht. Am Ende konnte er ihn zwar davon überzeugen, dass
     dieser ausgefuchste Sessel für das Empire nicht so unentbehrlich war, wie Sidney glaubte, was keine leichte Aufgabe war, doch
     dann standen sie wieder am Anfang und brauchten eine Idee.
    Verzweifelt richteten sie ihren Blick auf das Gewühl der Waren, die aus den Kolonien kamen. Welches Produkt konnte noch eingeführt
     werden, welchen Bedarf gab es bei den Engländern noch zu befriedigen? Sie schauten sich aufmerksam um, doch nichts schien
     zu fehlen. Ihre Majestät mit den zahllosen Tentakeln holte bereits alles aus der Welt heraus, was das Land brauchte. Natürlich
     gab es da noch etwas, das sie brauchten, doch war dies ein Bedürfnis, das laut zu benennen noch niemand gewagt hatte.
    Sie fanden es in einer der Geschäftsstraßen von New York, wohin sie zwecks Inspiration gereist waren. Sie befanden sich auf
     dem Rückweg ins Hotel, wo sie ihre gemarterten Füße in eine Schüssel mit warmem Wasser und Badesalzen eintauchen wollten,
     als ihnen in einem der Schaufenster das Produkt auffiel. Hinter der Fensterscheibe stapelten sich merkwürdige Packen von fünfhundert
     Blatt mit Befeuchtungsmittel versetztem Manilapapier. «Gayetti – therapeutisches Papier», lasen sie auf den Banderolen. Was,
     zum Teufel, machte man damit? Sie entdeckten es auf einem Zettel mit Instruktionen, der an der Innenseite der Schaufensterscheibe
     angebracht war und ohne jede Scham die Zeichnung einer Hand darstellte, die das beworbene Produkt elegant zur verborgensten |175| Stelle des Gesäßes führte. Offenbar war dieser Gayetti der Meinung, es sei endlich an der Zeit, getrocknete Maiskolben und
     zerrissene Zeitungsseiten Vergangenheit werden zu lassen. Nach einem Moment der Verblüffung warfen sich William und Sidney
     einen verschwörerischen Blick zu. Sie hatten es gefunden! Man musste kein Fuchs sein, um vorauszusehen, wie dankbar dieses
     Geschenk des Himmels von Hunderttausenden geröteten englischen Hintern angenommen werden würde. Bei fünfzig Cent die Rolle
     würden sie in kürzester Zeit reich sein. Sie kauften so viel, wie nötig war, um einen kleinen Laden damit auszustatten, den
     sie in einer der Hauptstraßen Londons erwarben, stellten einen ganzen Berg davon ins Schaufenster, hefteten ein Plakat daran,
     auf dem die korrekte Handhabung detailliert beschrieben wurde, und warteten hinter der Theke darauf, dass man ihnen diese
     wunderbare zeitgemäße Erfindung aus den Händen riss. Doch niemand überschritt am Eröffnungstag die Schwelle ihres Ladens,
     auch an den folgenden Tagen nicht, aus denen bald Wochen wurden.
    Drei Monate brauchten William und Sidney, um sich ihre Niederlage einzugestehen. Ihr Traum vom Reichtum war brutal zerschlagen
     worden, kaum dass er aufgekeimt war, hinterließ ihnen jedoch so viel therapeutisches Papier, dass sie für den Rest ihrer Tage
     auf die Blätter des Sears-Kataloges verzichten konnten. Doch manchmal geht die Welt ihre eigenen Wege, und kaum hatten sie
     ihren defizitären Laden geschlossen, begann das Geschäft zu blühen. In den dunkelsten Winkeln der Pubs, in finsteren Gassen
     und selbst in ihren angestammten Hurenhäusern wurden William und Sidney von den unterschiedlichsten Gestalten angesprochen,
     die mit Flüsterstimme und unstetem Blick |176| paketweise ihr Wunderpapier bestellten, um gleich darauf im Dunkeln zu verschwinden. Überrascht von der Heimlichkeit, unter
     der ihr Geschäft gedieh, gewöhnten sich die jungen Unternehmer daran, in tiefer Nacht die Stadt zu durchstreifen, der eine
     hinkend, der andere schnaufend, um ihre diskreten Lieferungen fern aller indiskreten Blicke abzuwickeln. Schon bald fanden
     sie nichts mehr dabei, ihr beschämendes Produkt vor Haustüren abzulegen, in bestimmtem Takt an Fenster zu klopfen, von Brücken
     aus ganze Pakete in still unter ihnen dahingleitende Barkassen zu werfen, einsame Parks aufzusuchen und unter einer Bank ein
     Bündel Geldscheine zu finden, oder vor den Toren

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