Die Landkarte des Himmels
Aber logisch ist es … eindeutig.»
Wells öffnete den Mund, um die hundert Fragen zu stellen, die sich in seinem Hirn stauten, doch das hätte bedeutet, zu akzeptieren, was Clayton gesagt hatte: dass es Zeitreisende gab und dass er einer davon war. Und das war etwas, das er jedenfalls nicht so ohne weiteres zu glauben bereit war.
«Das glaube ich nicht», sagte er.
«Gut.» Clayton zuckte die Schultern, als wäre ihm völlig egal, was Wells glaubte oder nicht glaubte. «Das brauchen Sie auch nicht. Ich habe nur getan, was ich tun musste: Sie darüber informieren, ohne dass andere davon erfahren.»
Nach diesen Worten verließ Clayton das Zimmer und ging in den Salon zurück. Wells folgte ihm. Er fühlte sich überrumpelt von dem, was Clayton ihm enthüllt hatte und wodurch seine eigene Enthüllung – dass er in der Wunderkammer gewesen war – auf einen billigen Knalleffekt reduziert wurde; darüber hinaus aber ärgerte ihn die arrogante Gleichgültigkeit des Agenten. Sein Albtraum fiel ihm wieder ein. Als er aufgewacht war, hatte er sich an nichts erinnern können. Nur Claytons Stimme klang ihm noch im Kopf: «Wachen Sie auf, Mister Wells, wachen Sie auf!» Aber Clayton war erst vier Stunden später wieder zu sich gekommen. Wie also hatte er seine Stimme hören können? Er dachte an die Worte, die Hauptmann Sinclair zu dem jungen Clayton gesagt hatte: «Denken Sie genau nach und nennen Sie mir alle Lösungen, die Ihnen einfallen, selbst wenn sie noch so unglaublich klingen.» Wells seufzte. Er musste zugeben, dass diese unmöglich erscheinende Möglichkeit eine Lösung sein konnte. Vielleicht sogar die einzige Lösung. Was hatte dieser Sinclair noch gesagt? «Manchmal ist das, was wir für unmöglich halten, wirklich die einzig mögliche Lösung.» Wells rieb sich die Nasenwurzel, um den Kopfschmerz zu vertreiben, der sich hinter seinen Augen zusammenzuballen begann. Aber, lieber Himmel, wie sollte ein Mensch so etwas glauben? Er schrieb
Die Zeitmaschine
und stellte fest, dass er ein Zeitreisender war? Er schrieb
Krieg der Welten
, und schon floh er vor angreifenden Marsmenschen? Was käme dann als Nächstes? Unsichtbar werden?
Zum Glück wurde er in seinen Gedanken, die ihn irre zu machen drohten, unterbrochen, als sie den großen Salon betraten. Dort bot sich ihnen eine Szene, auf die keiner von ihnen vorbereitet war. Hätte er Hauptmann Sinclair da sitzen sehen, wäre ihm das als eine dieser unvorstellbaren Möglichkeiten erschienen. Andererseits umgab aber auch die Liebe etwas Magisches, und da konnte ebenfalls alles Mögliche passieren. Murray saß mit verbundener Schulter in einem Sofa, den Kopf der jungen Dame entgegenstreckend, die neben ihm saß und mit lieblich geschlossenen Augen seiner Lippen harrte. Das Eintreten von Wells und Clayton machte diese Szene zunichte. Murray fuhr hoch, räusperte sich einigermaßen missmutig, während er – genau wie Emma – seine Verlegenheit mit allerhand Zupfen und Glattstreichen zu überspielen suchte. Wahrscheinlich fragte er sich, ob Wells es darauf angelegt hatte, seine sämtlichen Kussvorhaben zu sabotieren; oder ob es zu dessen Racheplan gehörte, über sein Zölibat zu wachen, seine Keuschheit zu erhalten?
Ohne jeden Sinn für die romantische Szene, in die er soeben hineingeplatzt war, sagte Clayton nach einem Blick auf seine Uhr:
«Es wird bald hell. Daher werden Mister Wells und ich Sie für eine Weile allein lassen und uns nach Primrose Hill begeben, um dort seine Frau Gemahlin zu treffen. Ich glaube, am besten wird es sein, wenn wir durch den Regent’s Park gehen.»
«Äh, es ist wirklich nicht nötig, dass Sie mich begleiten, Clayton», erwiderte Wells, der es nicht gewohnt war, andere mit seinen persönlichen Angelegenheiten zu behelligen, schon gar nicht, wenn es um Herzensdinge ging.
«Machen Sie Witze?», rief Clayton empört. «Weiß der Himmel, was uns da draußen erwartet. Ich werde Sie auf keinen Fall allein gehen lassen.»
«Wir gehen alle mit Ihnen, George», fügte Murray hinzu und erhob sich. «Nicht wahr, Emma?»
«Selbstverständlich», antwortete die junge Dame, sich ebenfalls erhebend. «Wir alle helfen Ihnen, Ihre geliebte Frau zu finden, Mister Wells.»
Wells blieb der Mund offen stehen. Es war nicht oft in seinem Leben vorgekommen, dass ihm ein so rührender Beweis selbstloser Freundschaft entgegengebracht wurde; und – auch das musste er zugeben – wie er sie selbst nicht eben häufig praktiziert hatte. Sollte es also
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