Die Landkarte des Himmels
dadurch. Anfängliche Unterhaltungen hatten sich mit der Zeit in Einsilbigkeit, unwilliges Grunzen oder völliges Schweigen verwandelt, je weiter die körperliche Erschöpfung fortschritt. Wenn Charles sich dennoch für etwas Besonderes hielt, dann deshalb, weil er nicht wie die meisten anderen auf der Straße aufgegriffen und eingesperrt worden war, ohne mehr von den Vorkommnissen zu wissen, als was im Lager an Gerüchten im Umlauf war. Nein, er hatte zu einer Gruppe von Kämpfern gehört, angeführt vom tapferen Hauptmann Shackleton, der um ein Haar sogar den Anführer der Invasion getötet hätte, was ihm jetzt allerdings wie ein ferner, unmöglicher Traum erscheinen wollte.
Um ihn sich in Erinnerung zu rufen, um jene Ereignisse aus den Tiefen seines Gedächtnisses hervorzuholen, war harte Konzentrationsarbeit erforderlich, und die musste er aufwenden, wenn er vollkommen erschöpft von der täglichen Arbeit in seine Zelle zurückkehrte. Dann hatte er nur noch eine knappe Stunde Licht, bis die Sonne unterging. So holte er trotz Müdigkeit und Erschöpfung sein Tagebuch unter der Matratze hervor und schrieb dort weiter, wo er aufgehört hatte, schnürte das Bündel der Erinnerungen auf, die in den tiefsten Katakomben seines Denkens ruhten.
Tagebuch von Charles Winslow
13 . Februar 1900
Als die Kutsche auf die Straße einbog, lag diese genauso friedlich da wie die Exhibition Road, durch die wir als Nächstes kamen. Die Kampfmaschinen waren also noch nicht bis nach Queen’s Gate gekommen. Das erleichterte mich sehr, weil es die Zeit verkürzte, die unsere Lieben ihnen ausgeliefert sein würden; vor allem aber, weil ich wirklich genug hatte von diesen unheimlichen Marsmaschinen, auch wenn ich jetzt den tapferen Hauptmann Shackleton an meiner Seite wusste. Aus den Augenwinkeln sah ich den Hauptmann gedankenverloren und mit ernster Miene neben mir sitzen. Woran mochte er denken? Ob er sich Strategien überlegte, Kriegslisten ersann? Unglaublich, wie anfällig wir doch für Beeinflussungen sind, dachte ich, während ich ihn beobachtete. Er war immer noch derselbe farblose Mensch, der vor wenigen Minuten erst meinen Widerwillen erregt hatte; doch jetzt, da ich wusste, dass er Hauptmann Shackleton war, sah ich einen kühnen Draufgänger, und die ehemalige Verzagtheit war in einen nachdenklichen Ernst umgeschlagen, der in jedem, der ihn sah, das unwiderstehliche Bedürfnis weckte, diesem Mann zu folgen, und sei es bis an die Pforten der Hölle. Was der Mann vollbracht hatte, war ein Wunder. Ich saß neben einer Legende; einer bewaffneten Legende, denn bevor wir aufgebrochen waren, hatte ich mir aus den Vitrinen meines Onkels drei Revolver ausgeliehen: für ihn einen Colt, einen Remington für Harold und einen Smith & Wesson für mich. So fuhren wir drei unserer Mission mit je einem Revolver im Schoß und den Jackentaschen voller Munition entgegen. Mir war zwar klar, dass ich nur eine untergeordnete Rolle in diesem titanischen Unternehmen spielte, aber dennoch spürte ich eine Welle der Zuversicht durch meinen angstgeschüttelten Körper wogen. Mein Zusammentreffen mit Shackleton war vom Schicksal bestimmt gewesen, denn wenn ich ihn nicht überzeugt hätte, wäre er nie auf die Idee gekommen, dass er es war, der die Invasion niederschlagen musste. Und da dies alles keine bloße Häufung von Zufällen sein konnte, erkannte ich plötzlich, dass alles, was wir jetzt scheinbar so freiwillig wie unüberlegt in Angriff nahmen, vom Schöpfer schon lange, lange vor unserer Geburt geplant worden war.
In stetigem Trab und aufmerksam die Gegend beobachtend, fuhren wir am Hyde Park vorbei und dann über den Piccadilly Circus in Richtung Soho. Erleichtert stellte ich fest, dass auch hier noch alles ruhig war. In der Ferne hörte man zwar immer noch gedämpft Explosionen durch das allgegenwärtige Glockengeläut, doch in der näheren Umgebung schienen sich keine Kampfmaschinen zu befinden.
Die Einwohner von London hatten sich in ihre Häuser geflüchtet, sodass die Straßen fast leer waren. In der Shaftesbury Avenue jedoch begegneten wir Menschen, die entsetzt in die Richtung rannten, aus der wir kamen. Das war die gleiche gesichtslose Menge, die mich auf meiner Flucht zur Themse mit sich gerissen hatte; zerlumpte Bettler neben gutgekleideten Bürgern, alle mit derselben Miene des Grauens. Aus den Fenstern unserer Kutsche sahen wir, dass einige der Fliehenden – alle unentwegt darauf bedacht, nicht niedergerannt oder von
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