Die Landkarte des Himmels
seine Zelle nun verlassen konnte, und nachdem die Krämpfe in den Beinen nachgelassen hatten, stand Charles auf, versteckte das Heft unter dem als Matratze dienenden Strohsack und beglückwünschte sich im Stillen, dass er gerade rechtzeitig mit dem letzten Absatz fertig geworden war. Dann trat er blinzelnd aus dem engen Kabuff, als wäre er eben erst aufgewacht.
Seine Zelle lag im obersten Gang der hohen Metallkonstruktion, die als Gefängnis diente, sodass man von der schmalen Plattform aus, von der jetzt die schlaftrunkenen Gefangenen seines Stocks ihren Weg nach unten antraten, einen weiten Blick über das ganze Lager der Marsleute hatte. Resigniert schaute Charles über das riesige Areal, in dem er den Tod finden würde und das ihm immer fremder wurde, da es sich stetig veränderte. Die gewaltige Pyramide in der Mitte war zwar noch nicht vollendet, aber bereits unvorstellbar hoch. Und in diesem Augenblick, als die aufgehende Sonne sich hinter einer ihrer Seitenkanten hervorschob und die glänzende Oberfläche in ein rötliches Glitzermeer verwandelte, sah sie sogar schön aus. Charles wusste jedoch, dass dieses mächtige Bauwerk in Wirklichkeit eine grauenhafte, ungeheuerliche Maschine war. Vor einigen Monaten hatten grünliche Blitze horizontal über die ganze Länge der unteren Stockwerke zu zucken begonnen, begleitet von einem seltsamen Summen. Die Seiten der Pyramide waren so lang, dass dieses Leuchten mehrere Stunden brauchte, bis es einmal ganz um die Basis gezogen war. Wer zufällig in der Nähe arbeitete, wenn das merkwürdige Phosphoreszieren über die glänzende Außenhaut glitt, spürte gleich darauf einen stechenden Schmerz in den Lungen, der sofort einen Hustenanfall auslöste. Was immer diese gewaltige Pyramide mit der Lufthülle der Erde anstellen sollte, sie hatte bereits damit begonnen. Weiter hinten, beinahe mit der Landschaft verschmelzend, lagen die schauerlichen Marsunterkünfte; knollenartige Behausungen von blassrosa Farbe, aus deren Dächern röhrenförmige Gebilde wuchsen, die wie biegsames Glas aussahen und widerlich schlaff über die Mauern herabfielen, dass man unwillkürlich an riesige, umgedrehte Quallen denken musste. Diese Röhren zogen sich in Richtung der Pyramide ein ganzes Stück am Boden entlang und verschwanden schließlich in der Erde. Links von den Marsbehausungen gab es nicht allzu weit entfernt eine riesige, trichterförmige Senke. Dort wurden die Toten hineingeworfen. Sie wurden über den Rand gekippt und purzelten die Schräge hinunter, bis sie in dem Loch in der Mitte verschwanden. Aber nicht nur die Toten endeten in diesem finsteren Schlund. Wenn die Marsmenschen der Meinung waren, ein Gefangener müsse bestraft werden, oder wenn einer das Pech hatte, krank zu werden und nicht mehr arbeiten zu können, begann sein Halseisen einen heiseren Summton abzugeben, und der Unglückliche marschierte daraufhin willenlos wie eine an Fäden gezogene Marionette auf den Trichter zu, stürzte sich hinein und fiel – sich drehend und sich überschlagend und immer kleiner werdend – der Mündung entgegen, bis er schließlich mit einem gellenden Schrei des Entsetzens in der schrecklichen Öffnung verschwand.
Schaudernd wandte Charles den Blick von dem grausigen Trichter. Kein Tag verging, an dem er nicht einen von ihnen verschlang, mal tot, mal lebendig; und wie jeden Morgen fragte sich Charles, ob heute vielleicht der Tag war, an dem es ihn treffen, an dem das Halsband den Befehl über seine Beine übernehmen und ihn zum Trichter schicken würde, was sogar als freiwilliger Akt erscheinen könnte, wenn sich sein Gesicht nicht zu einer Grimasse des Grauens verzerrte.
Seine Augen verloren sich am Horizont. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wäre das Lager nicht umzäunt, und jeder Gefangene könnte sich ermuntert fühlen, einfach querfeldein davonzulaufen; in Wirklichkeit jedoch lauerte draußen ein unsichtbarer Tod. Kein Mensch wusste, wo genau die tödliche Linie verlief; doch wenn jemand so tollkühn war, sich weiter als erlaubt vom Lager zu entfernen, begann sich sein Halsband zusammenzuziehen und ihm die Luft abzuschnüren, bis er so weit zurückgegangen war, dass er wieder frei atmen konnte. Das verhinderte natürlich nicht, dass manche in ihrer Verzweiflung den unsichtbaren Zaun vergaßen oder glaubten, schneller laufen zu können, als das Halsband brauchte, um sie zu erwürgen. Doch in den endlosen zwei Jahren, die Charles nun dort war, hatte es noch keinen gegeben,
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