Die Landkarte des Himmels
Gespür für Sprache die Worte für das finden, was Murray empfinden musste, als er sie hörte? Was ich selbst in meinem armseligen Versteck fühlte? Emma sprach die Worte hold und glöckchenhell in dem feierlichen Bewusstsein, dass sie sie zum ersten Mal in ihrem Leben sagte. Jahre hatte sie darauf gewartet, sie auszusprechen, und nie geglaubt, dass der Tag wirklich einmal kommen würde; schon gar nicht, dass sie dieser Tag nicht auf der heimischen Terrasse oder von herrlichen Blumen umgeben im Garten überraschte, sondern in den stinkenden Kloaken von London, mit Ratten als einziger Beigabe. Doch als sie die Worte aussprach, hatte sie es zu einem Ende gebracht, und nur das war es, was zählte; sie hatte den Ton getroffen, den diese Worte verdienten, hatte jedes einzelne Wort gesprochen, als gehöre es zu einem uralten Ritual, als wäre ihre Stimme nicht durch den Mund, sondern direkt aus dem Herzen gekommen. Es waren tiefempfundene Worte; Worte, die ich unzählige Male aus dem Mund von Liebenden, von Schauspielern, von Freunden vernommen hatte, diesmal jedoch von einer Reinheit und Ernsthaftigkeit durchwirkt, dass alles andere nur als lächerlicher Versuch erscheinen musste, mit mechanisch aneinandergehängten Wörtern Gefühl zu erzeugen. Vor allem aber, dachte ich betrübt, hatte Emma sie in dem vollen Bewusstsein gesprochen, dass die Zukunft ihr nicht mehr allzu viele Möglichkeiten geben würde, sie zu wiederholen.
«Ich freue mich, dass ich mit diesem Wissen sterben kann», antwortete Murray, ebenso gerührt, wie ich es war.
«Es ist mir in Claytons Keller klargeworden, als Sie mir alles gestanden haben», fuhr Emma fort, «obwohl ich seitdem alles getan habe, um es zu verheimlichen. Es tut mir so leid, Gilliam, verzeih mir … Aber als ich entdeckte, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben verliebt war, bekam ich Mitleid mit mir selbst. Was hatte ich jetzt noch davon, kurz bevor die Welt unterging?» Emmas Stimme brach wie ein trockener Zweig. «Ich glaubte, wenn ich es zuließe, würde es unser Leid nur noch vergrößern. Ich will nicht, dass der Mann, den ich liebe, stirbt, und ich will nicht sterben, nachdem ich Sie endlich gefunden habe! Darum habe ich versucht, mich diesem Gefühl zu verschließen … Aber klar, dem Herrn der Zeit gegenüber bin ich machtlos.»
«Gerade haben Sie mir einen Titel verliehen, den ich mit viel größerem Stolz tragen werde: der glücklichste Mann der Welt.»
«Einer zerstörten Welt, ist Ihnen das nicht klar?» erwiderte Emma verzweifelt. «Wir sind uns zu spät begegnet, Gilliam …»
«Zu spät? Nein, Emma, nein. Im Haus Ihrer Tante haben Sie mir gesagt, Sie würden jetzt wieder träumen können, Sie wüssten, dass Sie die Landkarte des Himmels in sich trügen … Diese Karte ist der Garant Ihrer Träume, Emma. In Träumen spielt die Zeit keine Rolle. Die Uhren bleiben stehen, so wie in den rosafarbenen Ebenen der vierten Dimension …»
In der langen Stille, die den Worten Murrays folgte und die einen weiteren langen Kuss verriet, stieß ich, so leise ich konnte, einen tiefen Seufzer aus, in der Hoffnung, den dicken Knoten zu lösen, der sich in meiner Kehle gebildet hatte. Ich war immer der Meinung gewesen, dass Liebesbezeugungen auf andere lächerlich und peinlich wirken mussten. Ich hatte sogar für jede meiner Geliebten ein eigenes Gefühlsvokabular entworfen, wobei ich dies allgemein übliche Liebesgeflüster natürlich stets mit ironischer Distanz betrieb. Wenn wir in einer Welt lebten, in der von einem Gentleman alle möglichen romantischen Verrenkungen erwartet wurden, würde ich sie mit größtmöglicher Geschicklichkeit und Eleganz absolvieren. Wie der Leser meinen ketzerischen Worten jedoch leicht entnehmen kann, war ich in Wirklichkeit überzeugt davon, dass die Liebe nicht existierte. Für mich war sie nur eine mehr oder weniger drollige, übertriebene oder schwülstige Art, unsere Angst vor der Einsamkeit, der Langeweile oder davor, ewig in der Hölle des Verlangens zu schmoren, in ein vornehmes Gewand zu kleiden. Was ich beispielsweise für meine Frau Victoria empfand, war nicht mehr als laue Zuneigung, eine nebulöse Zärtlichkeit, die der Wind anfachen und auch wieder verwehen konnte; und ich war sicher, dass es nicht an ihr lag, denn mir war es nicht gegeben, auf eine bessere Art zu lieben. Warum hatte ich sie dann geheiratet? Schlicht und einfach deswegen, weil ich gern verheiratet sein, eine Familie gründen und mein geerbtes Geld nicht
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