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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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das Blut des Gefangenen analysierten, einen für geeignet hielt, im Innern der Pyramide zu arbeiten, hieß das, dass er zum Tode verurteilt war, was Charles allerdings nicht sonderlich überraschte. Er wusste, dass er dem Tod geweiht war, seit er nach einem Hustenanfall ein Blutklümpchen auf dem Boden gefunden hatte, das ein grünliches Schimmern von sich gab.
    Sie betraten die Pyramide durch eine runde Luke an der Basis des Bauwerks und stiegen an einer an der Wand verschraubten Leiter nach unten. Dort erwartete sie ein enger Tunnel mit phosphoreszierenden Wänden, durch den sie hintereinander dem vorangehenden Marsmenschen folgten. Vor Charles ging Ashton, der Gefangene, der ihm das unschätzbare Tagebuch besorgt hatte. Er versuchte es zwar immer noch mit dem angeberisch wiegenden Gang, mit dem er früher durch die Straßen seines Stadtteils – irgendein Drecksviertel auf der East Side – stolziert war, doch Charles entgingen die Schweißtropfen nicht, die seinen schmutzigen Nacken hinunterrannen. Hinter Charles ging der junge Garvin, ein Jüngelchen, kaum älter als vierzehn Jahre, das noch ein Kind gewesen war, als die Invasion begann. Sein Atem ging keuchend, und als sich Charles zu ihm umdrehte, blickte er in das ängstliche Kindergesicht, das mit den tränennassen, eingefallenen Wangen im Phosphorschimmer des Tunnels wie ein geisterhafter Totenkopf aussah, als gehörte er dem Gespenst eines durch seine leere Wohnung streifenden Kindes, das noch nicht begriffen hat, dass es längst tot ist. Ohne ein Lächeln oder ein aufmunterndes Wort drehte sich Charles wieder um und starrte weiter auf Ashtons schmutzigen Nacken. Was hätte er dem Jungen schon sagen können! Trost war eines der vielen Dinge, die es seit der Invasion der Marsmenschen auf der Erde nicht mehr gab.
    Nach mehreren Minuten Marsches, in denen sie immer wieder an Abzweigungen vorbeikamen, die sie jedoch hinter sich ließen, schienen sie ihr Ziel erreicht zu haben. Am Ende des Gewölbes konnte man so etwas wie einen Saal erkennen, dessen Wände ebenfalls grünlich schimmerten, nur viel intensiver als die des Tunnels. Charles versuchte immer noch, sich zu orientieren und fragte sich, wie weit sie wohl gegangen sein mochten. Ob der Saal den Mittelpunkt der Pyramide bildete? Er wusste es nicht; ebenso wenig, wie er sagen konnte, ob sie sich noch unter der Erde befanden oder – wie er unterwegs geglaubt hatte, feststellen zu können – ob der Gang leicht angestiegen war und sie mittlerweile in einem oberen Stockwerk angekommen waren. Ihre Schritte klangen zwar, als wäre der Boden darunter hohl, dennoch hatte er das Gefühl, viele Meter unter der Erde zu sein und eine abgestandene, verdorbene Luft einzuatmen; eine Luft, die schon Tausende von Jahren alt war und die Kehle spröde und rissig machte. All die Fragen traten jedoch immer mehr zurück, je näher sie dem Bogen kamen, der den Tunnel von dem hell schimmernden Saal trennte, und seine Gedanken sich nur noch auf eine einzige Frage konzentrierten: Was erwartete sie dort drinnen?
    Nach all den Dingen, die er in den vergangenen zwei Jahren gesehen und die seinen Verstand mehr als einmal an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten, wenn er versucht hatte, das absolut Unmögliche zu verstehen und zu akzeptieren, musste Charles jetzt erkennen, dass nichts von alledem ihn darauf hatte vorbereiten können, was ihn im Innern dieses Saals erwartete. Vor dem Zugang gerieten die Gefangenen ins Stocken und blockierten den Eingang, drängten sich furchtsam und unentschlossen aneinander, während sie mit der Hand die Augen abschirmten, weil das grüne Licht sie blendete, das so intensiv war, dass man es beinahe hören und schmecken konnte. Als die Augen sich an den Glanz gewöhnt hatten, schauten sich die Gefangenen blinzelnd um. Eine ganze Zeitlang begriffen sie nicht, was sie da sahen. Es war, als starrten ihre Augen auf ein grauenvolles Rätsel; auf etwas, von dem sie erst wissen würden, wie entsetzlich es war, wenn sie jahrhundertelang daraufgeschaut hätten.
    Der Saal war rund und hatte einen Durchmesser von etwa fünfzehn Metern, doch er musste hoch wie eine Kathedrale sein, denn seine Decke konnte man nicht sehen. In der Mitte war der Raum leer, aber an den Wänden reihten sich Tanks aus einem glasähnlichen Material aneinander; durchsichtige Röhren, die sich in der dunklen Höhe verloren wie aufragende Orgelpfeifen. Sie waren mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt, einer Art Sirup, von dem der

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