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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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näher an die Seitenwand herangingen. Wir anderen folgten ihnen, als bildeten wir einen Leichenzug, während die Kinder in der Mitte des Raum stehen blieben. Als der Schriftsteller und der Agent die Mauer erreichten, gingen sie in entgegengesetzten Richtungen mit hocherhobenen Fackeln an ihr entlang. Im auf die Wand fallenden Lichtschein sahen wir, dass diese in quadratische Fächer unterteilt war wie ein Schachbrett und jedes Fach mit orientalisch anmutenden Mustern verziert war. Wells bewegte seine Fackel an der ganzen Wand entlang und zeigte uns – genau wie Clayton auf der anderen Seite – in den Stein gemeißelte Fächer mit befremdlichen, kupfern schimmernden Zeichen.
    «Heiliger Himmel!», rief Wells aus.
    «Heiliger Himmel …», schallte es wie ein Echo von Clayton herüber.
    «Was ist denn?», fragte ich, weil ich absolut nicht kapierte, was vor sich ging.
    Wells wandte sich zu uns, doch sein besorgter Blick ruhte auf den Kindern.
    «Sie haben uns zu ihren Eltern geführt …, nur, dass die Eltern ihre Vorfahren sind», flüsterte der Schriftsteller.
    «Was soll das heißen, Mister Wells?», fragte ich, immer noch befremdet.
    «Sehen Sie her, Mister Winslow.» Clayton winkte mich zu sich. «Was glauben Sie, sind diese Quadrate?»
    «Keine Ahnung», erwiderte ich ungeduldig. Ich hatte wirklich keine Lust auf Ratespiele.
    «Sie haben keine Ahnung, was?», sagte er enttäuscht und wandte sich dann dem Schriftsteller zu. «Aber Sie wissen es, stimmt’s, Mister Wells?»
    Der Schriftsteller nickte finster. Er hatte diese Zeichen auf dem Flugobjekt im Keller der Wunder gesehen.
    «Es sind Zeichen vom Mars», sagte er. «Und diese Quadrate in den Wänden, Mister Winslow, sind Grabnischen.»
    Grabnischen? Wells’ Worte überraschten mich genauso wie die anderen. Wir drehten uns um die eigene Achse und betrachteten verwirrt und beunruhigt dieses gigantische Mosaik von quadratischen Fächern an den in gewachsenen Fels gehauenen Wänden.
    «Dann stehen wir hier auf einem Marsmenschenfriedhof?», fragte Murray.
    «Sieht ganz danach aus», entgegnete Harold düster.
    Ich hörte die Worte kaum, so verwirrt war ich. Der Gedanke setzte sich erst allmählich in meinem Gehirn fest, das sich zunächst noch der Einsicht zu verweigern suchte, dass die Marsmenschen nicht erst seit einigen Stunden auf der Erde waren, sondern sich schon seit wer weiß wie lange hier aufhielten und unter uns lebten. Aber wenn wir uns in einer Art Marskatakomben befanden, hieß das dann nicht, dass die Kinder … Oh, Gott … Ich starrte sie ungläubig an. Sie standen aneinandergedrängt in der Mitte der Krypta, nur wenige Schritte von uns entfernt, und schauten uns erwartungsvoll an. Sie hatten uns geführt, wohin wir gewollt hatten, und jetzt warteten sie ein wenig gelangweilt auf unsere nächste Laune, hofften jedoch vermutlich, dass wir sie wieder spielen ließen. Für mich waren sie nichts anderes als Kinder, mit ihrer zarten Haut und den kleinen Körpern, die noch ganz neu auf der Welt waren. Kinder, wie unsere eigenen: schwach, unschuldig, menschlich. Aber das waren sie nicht. Sie sahen nur so aus. Obwohl ich das kaum glauben konnte – vor meinen Augen hatte sich ja noch kein Mensch in ein Marsmonster verwandelt –, sah ich, dass meine Gefährten keine derartigen Vorbehalte hatten und nur mit Mühe das Grauen verbergen konnten, das sich in ihre Mienen drängte.
    «Ein Kind fehlt», hörte ich Emma sagen.
    «Das stimmt», bestätigte Jane.
    «In Ordnung», murmelte Clayton in drängendem Tonfall, ohne auf die Bemerkung der Damen zu achten. «Wir werden uns nicht aufregen und die Situation zu unserem Vorteil nutzen. Genau das werden wir tun. Machen Sie keine so entsetzten Gesichter, sonst schöpfen diese kleinen Marskinderchen noch Verdacht. Ich will nur freundliches Lächeln auf Ihren Gesichtern sehen, Ladies and Gentlemen.»
    Die letzten Worte kamen in heiserem Ton über seine Lippen und klangen wie eine Drohung. Dann räusperte sich Clayton wie ein Tenor, bevor er auf die Bühne hinausgeht, und trat äußerlich unbekümmert zu den Kindern. Zu den Marskindern, muss man hinzufügen.
    «Sag mal, Curly …», sagte er und ging auf ein Knie nieder. «Wohnt ihr hier?»
    Curly wandte seinen Blick von uns und schaute ihn an.
    «Nein, natürlich nicht. Wie kommen Sie denn darauf!» Seine Stimme klang empört. «Wir wohnen oben. Aber heute dürfen wir nicht oben spielen, weil Er gesagt hat, dass es da gefährlich ist. Darum sind wir hier

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