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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Mit einem Seitenblick erkannte ich, dass Murray die Waffe jetzt auf den Sprecher gerichtet hielt, und Clayton, Harold und Shackleton in dieser Sekunde das Gleiche taten. Ich konnte nur tatenlos zusehen und verwünschte mich, dass ich mir wie ein Trottel den Revolver hatte abnehmen lassen und nun von jeder weiteren Aktion ausgeschlossen sein würde.
    «Oh, welch eine rührend menschliche Reaktion!», rief der Alte, als er die vier Waffen auf sich gerichtet sah. «Aber glauben Sie wirklich, dass es etwas nützte, auf uns zu schießen?»
    Die vier warfen sich fragende Blicke zu, hielten ihre Waffen aber weiterhin auf die Umstehenden gerichtet. Unser Starrsinn amüsierte den Alten, aber er hob besänftigend die Hände.
    «Bitte, Gentlemen …, zwingen Sie uns nicht, Sie auszulöschen. Sie wissen, dass wir das können. Legen Sie Ihre Waffen nieder und ergeben Sie sich», sagte er, immer noch in seinem honigsüßen Tonfall. «Wer gehorcht, wird Seine Gnade erfahren: ‹Seid stille und erkennt, dass ich Gott bin›, Psalm  46 , Vers  11 », rezitierte er, mitleidig lächelnd. «Ich will doch nichts anderes, als Sie dorthin bringen, wohin Sie ohnehin wollen: Er möchte Sie ebenso kennenlernen wie Sie ihn. Besonders einen von Ihnen …» Er trat zwei Schritte auf uns zu und streckte uns seine Hände entgegen. «Begeben wir uns in Frieden zu Ihm, meine Brüder: ‹Meine Zeit liegt in deinen Händen. Errette mich von der Hand meiner Feinde und von denen, die mich verfolgen. Lass leuchten dein Antlitz über deinen Knecht›», deklamierte er und schaute Wells dabei merkwürdig lächelnd an, um dann hinzuzufügen: «Psalm  31 , Vers  16 und 17 .»

XXXVI
    Am nächsten Tag erwachte Charles mit dem Gesicht in einer Lache von Blut. Wegen der Blutkruste auf den Lippen und an den Mundrändern nahm er an, dass er in der Nacht starkes Nasenbluten bekommen hatte. Als er es sich mit dem Ärmel abwischte, lösten sich zwei der wenigen ihm noch verbliebenen Zähne sauber aus dem Zahnfleisch. Zitternd vor Kälte und gleichzeitig schweißgebadet setzte er sich langsam auf. Allein das Atmen war schon zur Qual geworden. Seine Kehle fühlte sich entzündet an, und die Lungen schienen mit glühenden Kohlen gefüllt. Viel mehr Symptome brauchte er nicht, um zu erkennen, dass seine Lebenszeit zu Ende ging, vielleicht sogar schneller, als er gedacht hatte.
    Nach dem Frühstück brachten die Marsmenschen ihn und die anderen seiner Gruppe wieder ins Innere der Pyramide. Dass sie gestern dem grünen Liquidum ausgesetzt gewesen waren, zeigte sich auf grausige Weise heute, sodass sie sich nicht anzusehen wagten, um nicht mit der eigenen Hinfälligkeit konfrontiert zu werden. Als sie durch den bekannten Tunnel marschierten, hatte Charles irgendwann den Eindruck, dass sie eine andere Abzweigung genommen hatten als gestern und dass diese tiefer unter die Pyramide führte. Er fühlte sich schrecklich schwach und übel; aber er wusste, dass das nicht nur an seinem Blutverlust lag oder an den ausgefransten Lungen. Es war etwas an der Luft, die sie in der Pyramide atmeten, das nicht nur den Körper vergiftete, sondern auch die Seele. Sie trocknete ihn aus, er verfaulte. Hätte er noch Kraft für einen poetischen Gedanken gehabt, würde er sagen, dass die Luft in der Pyramide dazu angetan war, jeden Ansatz von Glück, der in der Welt noch irgendwo blühen mochte, verwelken zu lassen. Zum Glück für Sie, die Sie jetzt vermutlich nicht gerade in poetischer Stimmung sind, brauchte Charles seine schwindenden Kräfte voll und ganz, um sich mit den übrigen Elendsgestalten vorwärtszuschleppen. Wohin führte man sie?, fragte er sich. Welche neuen Schrecken warteten auf sie? Nach dem grausigen Anblick, der ihnen am Vortag zugemutet worden war, konnte Charles kaum glauben, dass es noch etwas Entsetzlicheres geben könnte. Selbst wenn er noch tausend Jahre lebte, würde er nichts mehr sehen, das etwas so absolut Böses, eine so unvorstellbare Grausamkeit widerspiegelte. Oder hatte er gestern etwa nicht die Kathedrale des Schreckens gesehen? Was würden ihm die Marsmenschen heute zeigen? Welchen Albtraum hielten sie noch für ihn bereit? Nichts, sagte er sich, ganz und gar überzeugt, dass es kein größeres Grauen geben konnte als den Anblick der im grünen Vergessen wässernden Kinder.
    Wie Sie sich denken können, irrte Charles.
    Als sie am Ende des Tunnels ankamen, wurden sie vom grünen Licht des neuen Saals derart geblendet, dass sie die Augen schließen

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