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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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junge Garvin offenbar einen Schwächeanfall erlitten hatte und ohnmächtig zusammengebrochen war. Dabei war er so unglücklich gestürzt, dass seine Beine unter die Tonne gerieten, die er in den Saal rollen wollte, und alle hörten das Knacken seiner an mehreren Stellen brechenden Knochen. Die Wächter wechselten einen kurzen Blick, und wenige Sekunden später war vom Halsband des Jungen das allen wohlbekannte Pfeifgeräusch zu vernehmen, woraufhin der immer noch bewusstlose Garvin sich auf groteske Weise zu erheben und auf die Beine zu stellen begann. Als er endlich stand, baumelte sein Kopf willenlos auf der Brust, und seine Beine begannen sich – in unmöglichen Winkeln abstehend – auf den Ausgang zuzubewegen. Charles schaute entsetzt zu, wie Garvin aus der Pyramide schlurfte, und betete, dass er in den Trichter fiel, bevor er das Bewusstsein wiedererlangte.
    Am Abend, als er in seiner Zelle vor dem aufgeschlagenen Tagebuch saß, musste er an den unbekümmerten, schlaksigen Jungen denken, der Garvin in den ersten Monaten ihrer Gefangenschaft gewesen war; wie er sich sofort zu der Gruppe gemeldet hatte, die mit dem Hauptmann die Flucht versuchen wollte. Er hatte als Einziger den Angriff einer Kampfmaschine auf sein Haus unverletzt überlebt und brannte nun darauf, den Tod seiner Eltern zu rächen. Er war sogar überzeugt gewesen, mit der Zeit das Vertrauen des Hauptmanns gewinnen und so etwas wie dessen rechte Hand werden zu können. Vor allem aber, dachte Charles mit wehmütigem Lächeln, war es der glockenhelle Klang seines Lachens, an den er sich erinnerte, ein hoffnungsfrohes Kinderlachen. Wenngleich Garvins Lachen nicht das Einzige war, an das er sich erinnerte.
    Tagebuch von Charles Winslow
    16 . Februar 1900
    Wir waren etwa zwei Stunden gegangen, als durch den Schlund des feuchten Gewölbes ein Laut an unsere Ohren drang, den wir an einem solchen Ort am wenigsten erwartet hätten: das Lachen von Kindern. Wir schauten uns verwirrt an, doch je weiter wir gingen, umso deutlicher wurde dieser glockenhelle Klang, der ein fast vergessenes Gefühl von unbeschwertem Familienleben in uns wachrief. Diese Kinder wagten es, fröhlich lachend die Marsmenschen herauszufordern und das Ende zu leugnen. Wir waren so ergriffen, dass wir immer schneller gingen und uns hoffnungsfroh anlächelten, je näher wir diesem magischen Gesang kamen.
    Und dann sahen wir sie. Mindestens ein Dutzend im Alter von etwa vier bis acht Jahren. Sie spielten selbstvergessen auf dem schmalen Seitenstreifen der Kanalisation und waren im schwachen Licht der Deckenlampen nur schemenhaft zu erkennen. Näher kommend sahen wir, dass die meisten von ihnen ärmliche, schmutzige Kleider trugen; aber drei oder vier von ihnen waren so elegant gekleidet, als wären sie gerade ihrem auf einer Parkbank sitzenden Kindermädchen ausgerissen. Den Kindern schien der äußere Unterschied vollkommen gleichgültig zu sein, und sie spielten ganz selbstverständlich miteinander, als gäbe es die gesellschaftlichen Unterschiede nicht, die wir Erwachsenen schon unbewusst wahrnehmen. Mit den Gewölben im Hintergrund wirkten die gestaffelten Spielszenen wie ein Guckkastenbild. Vorn hielten sich die Kleinsten an den Händen, tanzten Ringelreihen, und sangen ein Kinderlied; hinter ihnen hüpften zwei etwas ältere Mädchen über die Rechtecke eines auf den schmierigen Boden gemalten Hinkespiels, während etwas weiter zwei andere ein Seil schwangen und ein drittes darübersprang, dass die langen Zöpfe flogen. Aus dem dunklen Hintergrund kamen plötzlich drei oder vier Jungen gerannt, von denen einer mit einem Stock einen Reifen vor sich hertrieb. Lachend rannten sie mitten durch eine Runde, die gerade ihre Brummkreisel um die Wette schwirren ließ.
    Alle waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie uns erst bemerkten, als wir auf ein gutes Dutzend Schritte herangekommen waren. Da hielten sie in ihren Spielen inne und schauten uns argwöhnisch, sogar etwas ärgerlich entgegen, als bedeuteten wir nicht mehr für sie als eine Bedrohung ihres vergnüglichen Treibens. Acht Erwachsene, die wie durch Zauberhand in ihr Reich eintraten, das sie ganz für sich zu haben glaubten, in dem kein anderes Gesetz galt als das, den Augenblick zu genießen. Doch man brauchte sie bloß anzusehen, um zu begreifen, dass sie, sobald die Überraschung verflogen wäre, Angst bekommen würden, weil sie allein und unbeschützt waren. Nachdem wir einige Sekunden lang einander sichtbar überrascht

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