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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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nach unten gegangen.»
    «Versteht sich, damit euch nichts passiert», sagte Clayton in beschwichtigendem Ton. Er wandte den Kopf und zwinkerte uns zu, bevor er fortfuhr.
    «Und wer ist ‹er›, Curly? Wer hat euch das gesagt?»
    «Der Gesandte, Mister. Der, den wir erwartet haben …, den sie schon erwartet haben», sagte der Junge, auf die Grabnischen deutend.
    «Ah … verstehe. Und wartet ihr schon lange auf ihn?»
    «Ja, Mister, sehr lange … Wir dachten schon, er käme nicht mehr.»
    «Verstehe …», Clayton leckte sich über die Lippen und wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Wells, als verfügten sie beide über Informationen, von denen wir anderen nichts wussten. «Und er …, ist er auch hier unten, Curly?»
    «Ja.»
    Clayton musste schlucken.
    «Gut, gut.» Er lächelte den Jungen an. «Könntest du uns zu ihm bringen.?»
    «Wozu?» Curly betrachtete den Agenten misstrauisch. «Wollt ihr ihn töten, wegen dem, was er euch antut?»
    «Töten? Nein, natürlich nicht, Curly», antwortete der Agent, mit seiner gesunden Hand abwinkend. «Wie kommst du bloß auf so eine Idee?»
    «Warum dann?»
    «Um mit ihm zu sprechen, Curly», sagte Clayton und zuckte die Achseln, um seinen Worten den Anschein von Unbekümmertheit zu geben. «Wir möchten uns mit ihm unterhalten, weiter nichts.»
    «Worüber unterhalten?»
    «Äh … Erwachsenensachen, du weißt schon», stammelte Clayton. «Dinge, die ihr bestimmt langweilig findet.»
    «Von denen wir nichts verstehen, meinen Sie?» Die Stimme des Jungen hatte einen drohenden Unterton, der mir umso beunruhigender klang, als er aus dem Mund eines solchen Kindes kam.
    «Das habe ich nicht gesagt, Curly …»
    «Ich glaube nämlich, dass wir davon sehr wohl etwas verstehen würden …»
    «Ein Kind fehlt …», hörte ich Emma hinter mir sagen. Ihre Stimme war nur ein ängstliches Flüstern.
    Die Kinder standen reglos in der Mitte des Raums und folgten dem Gespräch zwischen Curly und Agent Clayton. Ihre entrückte Konzentration hatte etwas so Abartiges, so wenig Menschliches, dass es mir kalt den Rücken hinunterrann.
    «Natürlich …, klar doch …», hörte ich Clayton abwiegeln. «Davon bin ich überzeugt, aber …»
    «Wir sind klüger, als ihr glaubt», beharrte der Junge, seinen dunklen, vollkommen leeren Blick auf den Agenten geheftet, der kurz zu zögern schien, als stände er im Begriff, das Gleichgewicht zu verlieren, «und verstehen Dinge, die ihr nie im Leben begreifen könntet.»
    «Mein Gott! Jetzt reicht’s aber!», rief Murray. Er griff in meine Tasche, zog die Waffe heraus, und bevor ich reagieren konnte, war er mit zwei ausgreifenden Schritten bei Curly und hielt ihm die Mündung des Revolvers an die Stirn. «Hör zu, du Rotzbengel. Ich weiß nicht, was du verstehst und wer du bist, aber das ist mir auch egal; mich interessiert nur, wer der Verantwortliche für diese Invasion ist und wie wir zu ihm kommen. Und ihr, meine lieben Kinderlein, werdet uns jetzt zu ihm führen. Falls nicht, schieße ich dir ein Loch in den Kopf, Curly. Denn glaube mir, wenn ich eines noch mehr hasse als Marsmenschen, dann sind es Kinder.»
    Von einer nicht auszumachenden Stelle im Raum kam ein Kichern und dann eine männliche Stimme:
    «Sie wären imstande, etwas so Heiliges zu vernichten wie ein unschuldiges Kind? Heißt es in eurer Heiligen Schrift nicht: ‹Lasst die Kinder zu mir kommen, denn ihnen gehört das Himmelreich›?»
    Wir alle starrten ins Dunkel, um den Sprecher zu erkennen. Dann schien sich das Dunkel zu verfestigen, begann sich zu bewegen, und voller Schrecken erkannten wir, dass wir von mehr als zwanzig Personen umringt waren. Zum größten Teil waren es Männer mittleren Alters, und ihrer Kleidung nach zu urteilen kamen sie aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten. Bevor wir zu irgendeiner Reaktion fähig waren, stoben die Kinder auseinander, und Murray hatte nichts mehr, worauf er den Revolver richten konnte. Der Mann, der gesprochen hatte, war ein paar Schritte vorgetreten. Er war ein älterer Herr von würdigem Aussehen, der einen Priesterkragen trug. Im Gegensatz zu seinen Männern, die uns durchweg mit finsteren Blicken musterten, strahlte er uns mit einem zufriedenen Lächeln an. Jetzt erst bemerkte ich, dass er den kleinen Hobo an der Hand hielt, der die Erwachsenen offenbar geholt hatte, derweil die anderen Kinder uns mit ihren Späßen abgelenkt hatten. Singend und hüpfend hatten sie uns in eine verdammte Falle gelockt.

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