Die Landkarte des Himmels
mussten. Erst nach einer Weile konnten sie sie wieder öffnen, indem sie schützend die Hand darüberhielten. Sie sahen wieder die bis in unendliche Höhen reichenden Tanks mit der grünlichen Flüssigkeit, die auch hier Körper enthielten, allerdings nicht von Neugeborenen. Da begriff Charles, dass das Grauen bodenlos war, dass es immer noch einen Albtraum, eine Abnormität, eine abstoßende Ungeheuerlichkeit geben konnte, die jene übertraf, welche er für den Gipfel des Schreckens gehalten hatte.
In den Tanks lagen aufeinandergestapelt wie menschliche Backsteine Hunderte von nackten Frauenkörpern. Jung die meisten, dicht an dicht gestapelt bis in unergründliche Höhen, die Köpfe der einen dicht an den Füßen der anderen. Alle lagen starr und regungslos, als schliefen sie. Die Haare schwebten wie Algen in der giftigen Flüssigkeit, die Haut war bleich und aufgequollen, die Augen geschlossen. Charles sah, dass ihre Lippen ein wenig geöffnet waren, doch kein Atemhauch verriet, ob noch Leben in ihnen war, weshalb er nicht wissen konnte, ob sie tot waren, wenngleich ihm natürlich klar war, dass sie nicht mehr leben konnten.
Das Niederträchtigste aber waren die Schläuche zwischen ihren Beinen. Es waren dieselben Schläuche, die aus den Bauchnabeln der Kinder ragten und in den Abflusslöchern von deren Wassertanks verschwanden, um – in einem Akt unaussprechlicher Vergewaltigung menschlicher Intimität – zwischen die Beine dieser Frauen und in ihre eingesunkenen Bäuche geführt zu werden. Hunderte von Schläuchen schlängelten sich in diesem teuflischen Meer aus der Höhe herab, um sich wie gierige Seeschlangen im stillen Innern der schlafenden Vestalinnen zu verkriechen. «Mein Gott, warum hast du uns verlassen?», flüsterte Charles.
Mit schwankenden Schritten näherte er sich dem entsetzlichen Schaufenster, drückte seine Stirn gegen das Glas, oder was für ein Material es war, und starrte auf die bleichen, still in der grünlichen Flüssigkeit schwebenden, auf schlimmste Weise ihrer Menschlichkeit beraubten Körper. Charles spürte, wie seine Knie nachgaben, und es kostete ihn schier übermenschliche Kraft, auf den Beinen zu bleiben und nicht ohnmächtig zu werden. Nein, er würde nicht zulassen, dass sie ihn in den Trichter schickten; nicht, bevor er sein Tagebuch zu Ende geschrieben hatte oder das Herz ihm barst, weil es keinen weiteren Schrecken mehr verkraften konnte. Er überwand seinen Schwächeanfall mit letzten Kräften und vernahm das Bellen der Bewacher, als diese ihnen die Arbeiten zuteilten.
Ähnlich wie am Vortag sollten sie wieder die Flüssigkeit in den Tanks erneuern. Angetrieben vom Gebrüll der Marsmenschen, setzten sich die Gefangenen langsam und schwankend in Bewegung, als müssten sie unter Wasser gehen, begaben sich in einen Lagerraum, in dem sich die ihnen schon bekannten Tonnen stapelten. Die nächsten Stunden vergingen, als gehörten sie zur Ewigkeit. Charles arbeitete wie eine aufgezogene Maschine und in einem Zustand der Erschöpfung, dass er manchmal meinte, sich selbst von außen zu betrachten. Einmal bekam er einen solchen Hustenanfall, dass sein Blick sich trübte und er das Bewusstsein zu verlieren glaubte; fürchtete, vor den kalten Blicken der Monster zu Boden zu gehen. Als er sich von dem Anfall erholte, sah er vor sich auf dem Boden eine grünlich glitzernde Blutlache, in der zwei Zähne schwammen.
Einer der Wächter befahl ihm mit einem brutalen Stoß in die Rippen, der ihn beinahe umgeworfen hätte, wieder an die Arbeit zu gehen. Er stützte sich auf die Tonne, die er durch den Tunnel zu rollen hatte, und schob sie vor sich her, doch der Hustenanfall hatte ihn so geschwächt, dass verworrene Gedanken und Bilder, flimmernde Erinnerungen und Traumsequenzen auf sein fieberndes Gehirn einstürmten, denen er hilflos ausgeliefert war. Zum Beispiel bewegten sich Bilder von der Weltausstellung in Chicago durch sein Unterbewusstsein, auf die seine Eltern ihn mitgenommen hatten, als er sieben Jahre alt war. Auf ihr war der sogenannte Stromkrieg entschieden worden; der Kampf um die Elektrizitätshoheit zwischen Edisons General Electric, die den Gleichstrom favorisierte, und der Firma Westinghouse Electric, deren Gründer den von Nicola Tesla erfundenen Wechselstrom durchzusetzen suchte. Westinghouse präsentierte dort ein Beleuchtungsprojekt, das nur halb so teuer war wie das von General Electric, und bot Tesla damit seine einzigartige Chance. Tausende von Besuchern –
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