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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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unter ihnen ein junger, faszinierter Charles – bestaunten und bewunderten die Generatoren, Dynamos und Motoren, die, mit Wechselstrom betrieben, die Welt im Lichterglanz erstrahlen ließen und das Reich der Dunkelheit damit für immer besiegten.
    Die Elektrizität, dachte Charles, als er vor den Tanks innehielt, war eine der großen wissenschaftlichen Errungenschaften, die den Menschen zum absoluten Herrn der Schöpfung machten … Von Trauer überwältigt, betrachtete er die Schläuche, die zwischen den Schenkeln dieser armen Frauen hervorkamen und sich nach oben schlängelnd irgendwo in der Höhe verloren. Er fragte sich, ob sie sich genau unter jenem anderen Saal befanden, in dem die Tanks mit den Kinderkörpern standen. Waren die Frauen mit ihren Kindern verbunden, um irgendeine wahnsinnige Art von Stromkreislauf zu erzeugen? War es das, was diese außerirdischen Monster im Sinn hatten: eine riesige menschliche Batterie zu bauen, die sich aus der mutmaßlichen Energie speiste, die eine Mutter mit ihrem Kind austauschte? Benutzten sie die uralte Mutter-Kind-Bindung, um ihre Maschinen anzutreiben? Nutzten sie als Energie etwas so Unantastbares und der Menschheit Heiliges wie die Macht der Mutterliebe? Charles spürte, wie ein Schluchzen in seine Kehle drang und ihn zu ersticken drohte, als er erkannte, dass seine Fieberphantasien Wirklichkeit waren. Die Marsmenschen zwangen die Frauen, ihre Kinder zu empfangen und zur Welt zu bringen, um sie dann beide in diese grünliche Flüssigkeit zu tauchen und vielleicht auf ewig zum Austausch jener schwebenden Teilchen zu verdammen, die das Gift der Lieblosigkeit in der Atmosphäre freisetzten und über die ganze Welt verteilten. Charles weinte, während er die Hebel betätigte, um einen Tank zu leeren, bis auch er ganz leer war. Er weinte ohne Kraft für den Zorn; ein zahmes Weinen jenseits des Schmerzes und des Leidens, jenseits allen Grauens. Er weinte und wusste nicht, dass die Tränen, die seine Wangen nässten, grüne Tränen waren.
    Und dann, ganz am Rande des Tanks, sah er sie. Die Wachen achteten nicht auf ihn, und so näherte er sich ihr und betrachtete sie, nur durch diese durchsichtige Wand von ihr getrennt, gegen die sein Herz immer rasender zu klopfen begann. Kein Zweifel, sie war es. Er erkannte sie trotz des pechschwarzen Haars, das ihr Gesicht wie ein Nachtschleier umwehte. Er betrachtete ihr anmutiges Profil und erinnerte sich an die bezaubernd gekräuselte Nase und die aufgeworfenen Lippen, die ihr ein etwas scheues Aussehen gaben, in das er sich sofort verliebt hatte, als ihre Freundin Lucy sie ihm auf der zweiten Expedition in die Zukunft vorstellte, kurz bevor sie alle aufgeregt wie Kinder in die
Cronotilus
eingestiegen waren, um dem siegreichen Kampf des tapferen Hauptmanns Shackleton beizuwohnen. Und er erinnerte sich an sie, wie er sie zuletzt im Keller des Hauses seines Onkels gesehen hatte, in einem Kleid aus grüner Seide – von der gleichen Farbe, die auch ihr nasses Leichentuch jetzt hatte – , die Arme um den Hals ihres Mannes geschlungen und ihm auf Zehenspitzen etwas ins Ohr flüsternd, die Abschiedsworte zweier Liebender, die kein anderer je erfahren würde … Und jetzt war sie hier, verbunden mit dem Kind, das ein anderer Mann mit ihr gezeugt hatte. Charles wusste nicht, ob in dieser Art von Koma noch ein Rest von Bewusstsein schlummerte, ob sie eine Vorstellung davon hatte, wo sie sich befand, oder ob sie von dem Kind träumte, das am anderen Ende des Schlauches schwebte, unerreichbar für eine Umarmung; von dem Hauptmann vielleicht und davon, eines Tages wieder mit ihm vereint zu sein. Er wusste nur, dass die Marsmenschen sie zu einer schönen Nymphe gemacht hatten, deren ewige Qual ihre Maschine antrieb. Und es war ganz offensichtlich, dass in diesem Zustand der Tod nur eine Befreiung sein konnte.
    Als er an diesem Abend in seine Zelle zurückkehrte, war Charles sicher, dass er einen weiteren Tag in der Pyramide nicht überleben würde. Deshalb zwang er sich, zu schreiben, ungeachtet der Blutstropfen, die grünlich glitzernd die Seiten befleckten und seine hastig hingeworfene Schrift großenteils unleserlich machten. Er bezweifelte, dass jemand – falls das Tagebuch überhaupt gefunden wurde – diese letzten Seiten würde entziffern können; aber dennoch schrieb er weiter und versuchte die Frage zu verdrängen, die ihn zu quälen begann, sobald er auf der Suche nach Erinnerung das Schreiben unterbrach: Sollte er es ihm sagen?

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