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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Hauptmann Shackleton zu erlösen, ihm die einzige Erlösung zu gewähren, die ein Mann noch erwarten konnte: selbst zu entscheiden, ob er weiterleben wollte oder nicht. Mit diesem Entschluss im Herzen richtete er seine wankenden Schritte nun zur Baracke am anderen Ende des Lagers, wo sein Freund untergebracht war.
    Trotzdem hatte er seine Kräfte falsch eingeschätzt. Der Hauptmann musste sein abendliches Krafttraining unterbrechen, als er vom Eingang seiner Zelle aus Charles wenige Schritte vor der Baracke zusammenbrechen sah. Er stürzte die Treppen hinunter, warf sich den leblos wirkenden Körper seines Freunds über die Schulter und brachte ihn in seine Zelle, wo er ihn mit der Fürsorge eines Präparators zerbrechlicher Insekten auf seinen Strohsack bettete. Er legte ihm die Hand auf die Stirn, die wie ein Hochofen glühte, und erkannte, dass er nichts mehr für seinen Freund tun konnte: Charles würde in kürzester Zeit sterben. Er setzte sich an seine Seite und ergriff seine Hand, während der junge Mann mühsam wieder zu sich zu kommen schien. Er stieß wimmernde Laute aus und versuchte, Shackleton in den Blick zu bekommen.
    «Ich sterbe, Hauptmann …», stammelte er. «Meine Kräfte sind am Ende.»
    Der Hauptmann machte ein mitfühlendes Gesicht und drückte seine Hand, sagte aber nichts. Was sollte er auch sagen, außer dass sein Freund recht hatte? Charles hatte ihm allerdings noch etwas zu sagen, bevor der Tod ihn holte. Darauf würde er seine letzten Atemzüge verwenden, und deshalb räusperte er sich mit einem knurrenden Laut, um die Kehle freizukriegen.
    «Verzeihen Sie mir, dass ich Sie an jenem Nachmittag von Claire getrennt habe, Hauptmann», flüsterte er. «Tut mir leid, dass es umsonst gewesen ist. Die letzten Stunden Ihres Lebens hätten Sie zusammen verbringen sollen, und ich habe sie Ihnen genommen. Sie glauben nicht, wie leid mir das tut. Ich habe es aber nicht aus böser Absicht oder willkürlich getan. Ich war absolut überzeugt, dass es Ihre Bestimmung sei, die Angreifer zu schlagen. Die Zukunft hatte es schon bewiesen, erinnern Sie sich?» Der Versuch, über den eigenen Scherz zu lächeln, geriet ihm zu einer schmerzlichen Grimasse. «Und ich verstehe immer noch nicht, warum zum Teufel es anders gekommen ist; warum die Zukunft, aus der Sie kommen, nicht eintreten wird, obwohl wir sie beide gesehen haben.»
    Shackleton bewegte sich unbehaglich in den Schultern, schwieg aber weiterhin.
    «Zum Glück bleibt mir nicht mehr viel Zeit, um mich mit dieser Frage zu quälen. Und ich glaube, ich habe mehr als genug für all die Irrtümer bezahlt, die ich in meinem Leben begangen habe. Ich bin so müde, Derek … Ich will jetzt nur noch schlafen …» Charles blinzelte, als wäre mit einem Mal dichter Nebel aufgekommen und behindere die Sicht auf den Hauptmann. «Das sollten Sie auch tun, Derek … Sie sollten aufgeben, tapferer Hauptmann. Sie brauchen nicht mehr zu kämpfen, mein Freund. Nicht mehr. Hören Sie mir zu … ich muss Ihnen etwas sagen …»
    Ein Hustenanfall zerriss ihm die Lungen, dass es ihn schüttelte und ihm Blut aus dem Mund quoll, das ihm am Kinn hinunter auf den Hals tropfte und eine ölig grünliche Spur hinterließ. Der Hauptmann hob Charles’ Oberkörper an, damit er nicht am eigenen Blut erstickte, hielt ihn, solange der Hustenanfall dauerte, und betrachtete ihn mit unendlichem Mitgefühl. Schließlich erholte sich Charles und schloss erschöpft die Augen, woraufhin der Hauptmann ihn wieder behutsam auf den Strohsack sinken ließ. Charles’ Atem ging so schwach, dass Shackleton einen Moment lang dachte, er sei gestorben; doch als er das Gesicht den blutbeschmierten Lippen seines Freundes näherte, spürte er ihn so flüchtig und schwach wie den Flügelschlag einer Libelle über dem Wasser. Charles lag im Sterben. Einige Sekunden lang betrachtete Shackleton ihn mit ernster Miene, dann schüttelte er langsam den Kopf, stand auf und ging zu dem Tisch, der am anderen Ende seiner Zelle stand.
    «Hauptmann Shackleton! Derek!», rief Charles plötzlich mit schreckgeweiteten Augen, da er in dem Dunkel, das sich auf seinen Geist niederzusenken begann, den Freund nicht mehr fand. «Wo sind Sie, Derek? Ich sehe nichts mehr … Alles ist so dunkel … Derek!»
    Der Hauptmann verharrte eine Sekunde bewegungslos hinter Charles, mit eingesunkenen Schultern, als trage er eine unmenschliche Last. Dann griff er mit einer hastigen Bewegung etwas, das auf dem Tisch stand, und kehrte

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