Die Lange Erde: Roman (German Edition)
Anflug von gedankenverlorener Liebenswürdigkeit eine freundliche und beruhigende Wirkung hat.«
»Allerdings, aber das solltest du mir wahrscheinlich nicht sagen. Das ist so, als würde ein Bühnenzauberer seine Tricks verraten.« Verdammt. Lobsang brachte ihn schon wieder zum Lachen. Man konnte ihm wirklich nicht böse sein. »Na schön, ich komme an Bord. Sind wir uns jetzt einig?«
Der Reifen bewegte sich langsam nach oben.
An Bord wartete der mobile Lobsang in seiner Kabine auf Joshua. Er hatte noch mehr Updates vorzuweisen.
Joshua musste laut lachen: »Du siehst aus wie ein Türsteher! Was soll das denn?«
»Mein Ziel war, wie ein englischer Butler um 1935 auszusehen, gnädiger Herr, und zwar wie ein ziemlich adretter Butler, wenn ich es mal so ausdrücken darf. Ich glaube, es wirkt nicht ganz so unheimlich wie der Killer-Replikanten-Chic à la Blade Runner, mit dem ich zuvor experimentiert habe, obwohl ich für jede Anregung offen bin.«
Adrett. »Zumindest ist es auf eine ganz andere Weise unheimlich. Scheint zu funktionieren. Aber lass das mit dem ›gnädiger Herr‹, ja?«
Der Butler verneigte sich. »Ergebensten Dank … Joshua. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Joshua, so bin ich zu dem Schluss gekommen, dass wir auf dieser Reise beide ständig dazulernen. Einstweilen befördere ich uns nicht weiter voran, als ein normaler Mensch im Verlaufe eines Tages zurücklegen kann, und zwar so lange, bis die junge Dame uns wieder mit ihrer Anwesenheit beehrt.«
»Guter Plan.«
Die übliche leichte Verunsicherung war kurz zu spüren, als das Schiff das Wechseln wieder aufnahm. Unter ihnen zog die Lange Erde träge mit nur wenigen Schritten pro Stunde vorüber, was Joshua wie eine altmodische Diaschau vorkam. Einmal hatte er im Heim so ein Gerät zwischen dem Gerümpel auf dem Dachboden gefunden. Einmal klicken, und die Jungfrau Maria war zu sehen, noch mal klicken, und da war Jesus. Man selbst stand still, während die Welten vorüberzogen. Such dir eine aus.
An diesem Abend führte Lobsang auf der großen Leinwand des Salondecks einen alten englischen Film mit dem Titel Auch die Kleinen wollen nach oben vor. Er setzte sich in seiner mobilen Inkarnation neben Joshua, um ihn sich anzusehen, was, wie Joshua dachte, wohl sehr merkwürdig aussah, wenn man sie beide mit Sallys Augen betrachtete – abgesehen davon, dass ihre Reise die Kategorie merkwürdig längst hinter sich gelassen hatte und mit voller Geschwindigkeit in Richtung bizarr rauschte. Jedenfalls schauten sie sich den uralten Film an, der sich über den Wettlauf ins All im 20. Jahrhundert lustig machte. Joshua erblickte David Kossoff sofort. Was es auch bedeuten mochte, Lobsang hatte ihn genau getroffen.
Nach dem Film war Joshua ganz sicher, dass er eine Maus quer über das Deck laufen und wieder verschwinden sah. »Auch die Kleinen wollen nach oben«, witzelte er.
»Ich setze Shi-mi auf sie an.«
»Die Katze? Ich habe mich schon gefragt, was mit dem Ding eigentlich passiert ist. Weißt du, dass Sally mir erzählt hat, sie sei in einer Familie von Wechslern aufgewachsen? Natürlichen Wechslern, meine ich. Sie ist nie allein gewesen, dort draußen in den Wechselwelten. Aber ihre Familie hat dafür gesorgt, dass sie niemandem etwas davon erzählt, so wie sie es seit jeher gehalten haben.«
»Selbstverständlich. Genau wie du, Joshua. Ein völlig natürlicher Instinkt.«
»Wahrscheinlich will niemand anders sein als die anderen.«
»Genauso ist es. Mit einer Fähigkeit wie dem Wechseln hätte man dich früher als Hexer verbrannt. Selbst heutzutage gibt es seit dem Wechseltag auf der Datum-Erde nicht wenige Menschen, die sich mit der Langen Erde und der ganzen Idee dahinter überhaupt nicht anfreunden wollen.«
»Wer denn?«
»Du hast wirklich kein Gespür für Politik, Joshua. Natürlich diejenigen, die nicht wechseln können. Sie lehnen die Lange Erde ab – und damit alle, die sich darin bewegen können, und alle Möglichkeiten, die diese großartige Öffnung mit sich bringt. Dazu kommen noch diejenigen, die unter den neuen Gegebenheiten Geld verlieren. Von denen gibt es immer mehr als genug …«
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D a hätten wir also die Polizistin Monica Jansson, fünfzehn Jahre nach dem Wechseltag, eine Frau, deren Leben vom Phänomen der Langen Erde ebenso verändert worden war wie das aller anderen. Sie bemühte sich, aus der ganzen Geschichte irgendwie schlau zu werden, während die Welt sich um ihren älter werdenden Körper wandelte
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