Die Lange Erde: Roman (German Edition)
ihn nach Osten. Nichts. Nur die stickige Dunkelheit. Die Angst erfasste ihn wieder. Er zog den Schalter nach Westen, ohne Ergebnis. Er riss den Schalter hin und her, bis er ihm in der Hand abbrach. Er versuchte nicht zu schreien. Er legte sich auf den Rücken und hämmerte mit den Fäusten an die Hülle des Kühlschranks. »Hilfe! He, Leute! Lasst mich raus! Debbie! Mac! Hilfe, lasst mich raus!«
Er hielt den Atem an und wartete. Nichts.
Er wusste, was sie jetzt machten, denn er würde es genauso machen. Sie warteten, eine halbe Stunde, eine Stunde, vielleicht noch länger. Dann würden sie sich allmählich fragen, ob irgendetwas schiefgelaufen war, und dann würden sie es mit der Angst zu tun kriegen und alle nach Hause rennen. Irgendwann würde einer sich verplappern, und alle würden zu der Müllkippe rausfahren, Papa würde die anderen anschreien, dass sie ihm sagen sollten, wo der verdammte Kühlschrank ist, und er würde den Schrott mit bloßen Händen herunterreißen …
Dumm war bloß, dass das noch Stunden dauern konnte. Dabei war es jetzt schon so stickig, dass ihm das Atmen in der Brust wehtat. Er bekam es wieder mit der Angst zu tun und zog an seinem demolierten Wechsler, bis er ihm vollends in den Händen zerbrach. Er schrie und hämmerte gegen die Wände des Kühlschranks, pinkelte sich in die Hosen. Er fing an zu weinen.
Dann ließ er sich erschöpft zurücksinken und betastete seinen kaputten Wechsler in der Dunkelheit: die Kartoffel, das Stromkabel, die Bruchstücke der Schaltplatte. Er hätte nicht so daran herumzerren sollen. Er hätte versuchen sollen, ihn zu reparieren. Wenn er sich genau in Erinnerung rief, wie er es zusammengebaut hatte, konnte er es vielleicht wieder hinkriegen. Er dachte intensiv daran, wie der Bauplan zum ersten Mal auf dem Display seines Handys erschienen war. Für solche Dinge hatte er ein gutes Gedächtnis. Er dachte sich in den Plan hinein, in die Spulen, die Einstellungen, und er …
Er fiel, einen halben Meter tief, vielleicht weniger, und landete mit einem dumpfen Aufprall auf weichem Boden. Plötzlich war wieder Himmel über ihm, hell und blendend, und die Luft strömte in seine Lunge.
Er war draußen! Zitternd kam er auf die Beine. Ein paar Bruchstücke seines Wechslers fielen auf den Boden. Die köstliche Frische der Luft machte ihn schwindelig. Als wäre er von den Toten zu neuem Leben erwacht. Beschämt stellte er fest, dass seine Hose immer noch feucht war.
Er sah sich um. Er befand sich in einem dichten Waldstück, konnte aber Lichter durch die Bäume schimmern sehen. Austin Ost 1 oder West 1, eins von beiden. Er musste nach Hause. Aber wie? Der Wechsler war noch kaputter als vorher. Trotzdem ging er ein paar Schritte von der Stelle weg, an der der Kühlschrank liegen musste …
Und dann stand er auf einem stinkenden Schrotthaufen neben einem großen Hügel, unter dem sich der Kühlschrank befinden musste. Er war zurückgewechselt auf die Datum. Er kapierte es nicht. Diesmal hatte er den Wechsler nicht einmal berührt. Ihm war noch nicht einmal schlecht geworden.
Aber darüber machte er sich zunächst einmal keine weiteren Gedanken. Er war wieder daheim! Er rannte weg, weg von dem Kühlschrank. Vielleicht hatten ihn seine Eltern noch gar nicht vermisst. Freudig erregt dachte er daran, wie er sein Handy wieder holen und vor seinen Freunden angeben würde.
Dummerweise war er bereits vermisst worden. Seine Eltern hatten die Polizei informiert. Einer der Polizisten, dem der kaputte Wechsler auffiel, war schlau genug, die entscheidende Frage zu stellen: Wie war es Jared gelungen, ohne Wechsler von einer Welt in die andere zu wechseln? Zu Jareds großem Missfallen durfte er nicht zur Schule gehen und musste einige medizinische Untersuchungen über sich ergehen lassen. Er musste mehreren »Experten« zu den Themen Wechseln und Lange Erde Rede und Antwort stehen, genauer gesagt einem Physiker, einem Psychologen und einem Neurologen.
Die Geschichte schaffte es bis in die Lokalnachrichten, ehe sie gekippt wurde. Danach wurde der Zwischenfall eher heruntergespielt, und die US-Regierung, die sich mit solchen Aktionen bestens auskannte, tat alles, um den Vorfall abzustreiten, die Zeugen – inklusive Jared selbst – unglaubwürdig aussehen und die ganze Sache dann in irgendwelchen Geheimakten verschwinden zu lassen.
Selbstverständlich war Lobsang über den Inhalt dieser Akten genauestens informiert.
*
»Warum brauchen die Leute dann überhaupt Wechsler?«,
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