Die Lange Erde: Roman (German Edition)
Geheimdienstliteratur verzeichnet.«
»Natürlich.«
»Wie du siehst, Joshua, bist du zwar ungewöhnlich, aber nicht einzigartig.«
»Warum erzählst du mir das alles jetzt?«
»Weil ich nicht will, dass wir Geheimnisse voreinander haben. Und weil ich jetzt ein sehr heikles Thema ansprechen möchte. Ich will dir von deiner Mutter erzählen.«
Die Mark Twain wechselte weiter nach Westen und machte dabei kaum ein Geräusch, nicht mehr als das leise Plopp, mit dem die Luft verdrängt wurde.
Vorsichtig drehte Joshua die Hitze unter dem Fisch auf dem Herd herunter. »Was ist mit meiner Mutter?«, fragte er so beiläufig wie möglich. »Schwester Agnes hat mir alles erzählt, was über sie bekannt ist.«
»Das glaube ich nicht, weil sie nämlich selbst nicht alles wusste. Ich schon. Und ich möchte dir sagen, dass die ganze Wahrheit, alles in allem, eine gute Wahrheit ist, eine Wahrheit zudem, mit der vieles verständlich wird. Ich glaube, es wäre besser für dich, wenn du sie kennen würdest. Aber wenn es dir lieber ist, rede ich nicht mehr davon. Das heißt, dass ich das Thema buchstäblich aus meiner Erinnerung lösche. Du hast die Wahl.«
Joshua konzentrierte sich in aller Ruhe auf den Fisch. »In welcher Welt könnte ich jetzt etwas anderes sagen als: ›Ich möchte alles über sie wissen‹?«
»Na schön. Wie du bestimmt weißt oder es dir zumindest schon gedacht hast, hat Schwester Agnes die Leitung des Heims letztendlich als Nachspiel dieser Angelegenheit übernommen. Ich meine die skandalöse Geschichte um deine Geburt. Es war ein Coup, gegen den die Vertreibung der Geldwechsler aus dem Tempel die reinste Junggesellenparty war. Das kannst du mir glauben, denn ich habe die Unterlagen eingesehen, und ich bezweifle sehr, dass eine Kardinalsversammlung jetzt noch versuchen würde, Agnes ihren Posten wegzunehmen. Sie kennt sämtliche schmutzigen Hintergründe. Nein, sie weiß sogar, was hinter den schmutzigen Hintergründen liegt … Deine Mutter war jung, als sie mit dir schwanger wurde, viel zu jung. In dieser Hinsicht hat das Heim bei ihr eindeutig versagt. Dein Vater ist übrigens unbekannt, nicht einmal ich weiß etwas über ihn.«
»Weiß ich. Maria wollte nichts über ihn sagen.«
»Unter der alten Führung war ihre Welt eine Welt tagtäglicher Buße. Einschlägige eidesstattliche Erklärungen, die anschaulich machen, wie diese Buße gehandhabt wurde, existieren in Schwester Agnes’ persönlichem Safe und natürlich in meinen eigenen Akten. Dort warten sie auf den richtigen Zeitpunkt, um hervorgeholt zu werden. Die Leitung war der modernen Zeit in keiner Weise mehr angemessen – eigentlich allen Zeiten, aber früher wurde dergleichen durchaus toleriert.«
Joshua sah Lobsang an und sagte mit tonloser Stimme: »Ich weiß, dass ihr jemand ihr Affenarmband weggenommen hat. Es war nichts Besonderes, aber sie hatte es von ihrer eigenen Mutter. Es war sozusagen alles, was sie besaß. Das hat mir Schwester Agnes erzählt. Wahrscheinlich galt so ein Armband als abergläubisch oder so.«
»Ja, so dachten sie damals. Aber es kam auch noch ein kräftiger Schuss Grausamkeit hinzu. Maria war zu der Zeit bereits hochschwanger. Das mit dem Armband kommt einem wie ein trivialer Anlass vor, aber es brachte sie völlig aus dem Gleichgewicht, und das zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Deshalb versuchte Maria an dem Abend, an dem die ersten Wehen einsetzten, aus dem Heim zu fliehen. Sie geriet in Panik und wechselte. Und zu diesem Zeitpunkt hast du die Bühne des Geschehens betreten. Eigentlich ist sie zweimal gewechselt. Sie hat dich geboren und ist wieder in die Datum gewechselt, wo sie nicht weit von der Straße vor dem Heim auftauchte und Schwester Agnes sie wiederfand. Agnes versuchte, sie zu beruhigen. Maria war in denkbar schlechter Verfassung, aber als ihr bewusst wurde, was sie getan hatte, wechselte sie abermals. Und als sie zurückkam, brachte sie dich mit, eingewickelt in ihren rosa Angorapullover, und sie übergab dich einer verdutzten Schwester Agnes, die überhaupt nicht mehr verstand, was da eigentlich vor sich ging. Erst am Wechseltag, als plötzlich jeder wechseln konnte, kam sie allmählich dahinter. Maria selbst starb an postpartaler Blutung. Es tut mir sehr leid. Selbst Schwester Agnes, die immer sehr schnell reagierte, konnte ihr nicht mehr helfen. Deshalb bist du, mein Freund, wohl das einzige Wesen, das zum Zeitpunkt seiner Geburt, wenn auch nur eine oder zwei Minuten lang, so gut wie
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