Die Lange Erde: Roman (German Edition)
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Hallo, meine treuen Hörer. Hier spricht Helen Green, eure Lowtech-Bloggerin, die schon wieder die Radiofrequenzen blockiert. Dieser Beitrag ist ein Eintrag von vor drei Jahren. Und zwar vom 5. Juli, also einen Tag nach, wie ihr sicherlich alle wisst, dem 4. Juli. Damals habe ich geschrieben …
Nennt man so was einen Kater?
O Gott! Bitte nicht!
Gestern war der Unabhängigkeitstag! Jippie. Wir sind schon seit acht Monaten hier, und immer noch ist keiner gestorben, jippie! Wenn das kein Grund zum Feiern ist! Wir sind Amerikaner, und wir befinden uns offiziell in Amerika, es war der 4. Juli, und damit hat sich der Fall.
Wenn man von heute aus auf uns von damals zurückblickt, hätte man uns in diesem ersten Sommer direkt für Indianer halten können. Wir wohnen alle noch in Schuppen und Tipis, in Hütten aus Ästen und Zweigen oder in großen, grob gezimmerten Gemeinschaftshäusern, und manche Leute hausen immer noch in ihren Treck-Zelten. Überall laufen Hühner und kleine Hündchen herum, die die Leute auf dem Rücken hierher mitgebracht haben. Wir bauen noch nichts an. Im folgenden Jahr soll es die erste Ernte geben. Wir haben einen Turnusplan zur Urbarmachung der Felder – brennen, roden, Steine wegschaffen, alles schwere Knochenarbeit, dabei haben wir lediglich unsere eigene Muskelkraft zur Verfügung. Für die Zukunft haben wir Saatgut – Mais und Bohnen und Flachs und Baumwolle – mitgebracht, und zwar genug, um im Notfall mehrere Missernten zu überleben. Ach ja, wir haben auch schon Kürbisse, Melonen und Bohnen auf dem gerodeten Boden in unmittelbarer Nähe der Häuser gepflanzt, in unseren »Gärten«.
Aber vorerst sind wir Jäger und Sammler! Das Land bietet sehr viel zum Jagen und Sammeln. Im Winter gibt es Barsche aus dem Fluss. Im Wald haben wir Tiere gefangen, die wie Kaninchen aussehen, und andere, die wie Rehe aussehen, und es gibt auch lustige kleine Pferde, obwohl wir uns bei denen ein bisschen angestellt haben, es war so, als würde man ein Pony essen. Jetzt, im Sommer, verbringen wir mehr Zeit an der Küste, wo wir fischen und Muscheln sammeln.
Man kommt sich wirklich vor wie in der Wildnis. Zu Hause auf der Datum haben andere Menschen im Laufe vieler Jahrhunderte die Welt für mich gezähmt. Hier hat noch niemand den Wald gerodet, die Sümpfe sind nicht trockengelegt, der Fluss ist weder eingedämmt noch sonst wie befestigt worden. Es ist alles sehr fremd. Und gefährlich.
Ich glaube, dass mein Papa auch ein paar von den anderen Leuten für gefährlich hält. Wir lernen uns alle näher kennen, aber sehr langsam, man kann nicht immer nach dem Äußeren urteilen. Manche Menschen sind nicht hergekommen, um irgendwohin zu gehen, sondern um vor irgendwas möglichst weit abzuhauen. Ein ehemaliger Soldat. Eine Frau, von der Mama glaubt, dass sie als Kind missbraucht wurde. Eine andere Frau, die ein Kind verloren hat. Von mir aus, ich hab nichts dagegen.
Jedenfalls sind wir hier. Wenn man im Wald auf die Jagd oder ein Stück am Fluss entlanggeht, sieht man die kleinen Rauchfahnen der Häuser aufsteigen und hört die Stimmen der Leute, die auf den Feldern arbeiten. Man spürt den Unterschied, wenn man bloß eine oder zwei Welten weiterwechselt, egal in welche Richtung. Eine Welt, in der Menschen leben, im Gegensatz zu einer ohne Menschen – ehrlich, man spürt es wirklich im Kopf!
Es gab ziemlichen Streit darüber, wie wir unsere neue Gemeinde nennen wollen. Die Erwachsenen haben eine Versammlung abgehalten, natürlich kam wieder das übliche Geschwätz und Blabla dabei heraus. Melissa wollte unbedingt einen hochtrabenden Namen wie »Neue Unabhängigkeit« oder »Erlösung« oder vielleicht auch nur »Neue Hoffnung« haben, aber mein Papa hat darüber gelacht und einen Witz von wegen Star Wars gemacht.
Ich weiß nicht mehr genau, ob es mein Vorschlag war oder der von Ben Doak, aber wir haben etwas gefunden, das hängen geblieben ist. Zumindest war es ein Name, gegen den niemand so doll etwas hatte, dass er absolut dagegen gestimmt hätte. Als der Name beschlossen war, bastelten Papa und ein paar andere ein Schild und stellten es an den Weg, der von der Küste heraufkommt.
WILLKOMMEN IN REBOOT
GEGRÜNDET A. D. 2026
EINW. 117
»Jetzt brauchen wir nur noch eine Postleitzahl«, sagte Papa.
Ich lese noch einen Eintrag von ungefähr einem Jahr später vor, den mein Papa geschrieben hat! Er hat mir ja bei diesem Tagebuch immer geholfen, vor allem mit der Rechtschreibung, puh. Danke,
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