Die Lange Erde: Roman (German Edition)
besteuern machte, weshalb sie zu Hause auf der Datum auch nur sehr schlecht funktionierte. Aber in den neuen Welten ist sie die ideale Währung, was nicht weiter verwundert, da ebenjenes System auch schon in den Anfängen der noch jungen Vereinigten Staaten benutzt wurde, als es noch keine Münzen gab und auch keine leistungsfähige Regierung existierte, die ihren Gebrauch hätte anerkennen können.
In Siedlungen wie Reboot besteht fast das ganze Leben aus kleinen Geschäften. Du kochst Tierfette und machst Talg daraus, und weil du zu viel davon gemacht hast, könntest du deiner Nachbarin etwas davon abgeben, die den Talg gut gebrauchen kann und dir dafür ein Pfund Eisenerz anbietet. Damit kannst du selbst zwar nicht viel anfangen, aber Franklin, der Schmied, umso mehr, also gibst du es ihm – im Tausch gegen einen Gefallen, den er dir irgendwann in der Zukunft zurückzahlen wird. Er schuldet dir also einen Gefallen, was etwas Handfestes sein könnte, vielleicht aber auch ein Angebot, dir irgendwelche im Laden gekaufte Artikel mitzubringen, wenn er beim nächsten Mal nach 100K oder auf die Datum reist. Oder irgendetwas ganz anderes.
Man kann keine ganze Zivilisation auf diesem System aufbauen, aber in einer Kolonie von hundert Leuten, die sich alle persönlich kennen, funktioniert es ziemlich gut. Schummeln bringt nichts, beziehungsweise klappt es nur eine Zeit lang. Schließlich will man nicht derjenige sein, dem alle Türen vor der Nase zugeschlagen werden, wenn man irgendwann dringend Hilfe braucht.
So zählt man seine Gefallen immer wieder zusammen, die positiven und die negativen, und wenn man bequem im Plus steht, nimmt man sich womöglich einen Tag frei und geht angeln. Den Krankenschwestern und Hebammen geht es besonders gut. Wie viele Gefallen ist eine erfolgreiche Geburt wert? Welchen Preis hat eine verletzte Hand, die so gewissenhaft versorgt wurde, dass du wieder arbeiten kannst?
In einer so kleinen Gemeinschaft wie der unseren funktioniert der gesunde Menschenverstand sehr gut, weil jeder letztendlich vom Entgegenkommen und dem guten Willen aller abhängig ist. Das wirkt sich sogar darauf aus, wie wir die Hobos, wie wir sie nennen, behandeln, also diejenigen, die ab und zu durch unser Gebiet streifen. Es sind Landstreicher, Herumtreiber, die mal hier, mal da, mal auf dieser, mal auf jener Welt arbeiten, ohne die Absicht, sich irgendwo niederzulassen, jedenfalls soweit ich das beurteilen kann; sie spazieren durch die Lange Erde und nehmen mit, was ihnen ohne große Anstrengung in den Schoß fällt. Warum auch nicht? In der Langen Erde gibt es genug Platz für Leute, die so leben wollen. Sie kommen zu uns, weil sie vom Rauch unserer Feuer angelockt werden; wir heißen sie willkommen, geben ihnen zu essen und lassen sie, falls Bedarf besteht, von unseren Ärzten behandeln.
Wir machen ihnen klar, dass wir dafür auch etwas erwarten, üblicherweise ein bisschen Arbeit, vielleicht auch nur ein paar interessante Nachrichten von zu Hause. Die meisten Leute akzeptieren dieses Geschäft ohne Wenn und Aber. Wenn Menschen frei und ungehindert leben können, wissen sie genau, wie man miteinander umgeht. Ich kann mir gut vorstellen, dass es schon die Neandertaler so gehalten haben. Es passiert nur selten, dass die Lektion nicht so recht ankommt. Manchmal wirken diese Hobos wie benommen, sprachlos gar, als hätten sie zu lange den Horizont angestarrt, dann fällt es ihnen in jeder Welt schwer, still zu sitzen. Das nennt man das Lange-Erde-Syndrom, habe ich mir sagen lassen.
Wir haben aber auch offiziellen Kontakt mit der alten Heimat. Es gibt einen Postboten, der seine Runden macht! Ein braver Mann namens Bill Lovell. Aus der Post wissen wir, dass irgendeine weit entfernte Behörde unsere unterschiedlichen Ansprüche auf Grund und Boden bestätigt hat. Das wichtigste Schreiben für mich war eine Stellungnahme der Pionierhilfe, einer Regierungsbehörde, die eingerichtet wurde, um die Angelegenheiten der Emigranten zu regeln. Meine Bankkonten und Investmentfonds laufen immer noch. Selbstverständlich sorge ich für Rod, unseren »phobischen« Sohn, unser »Schlüsselkind«, wie sie inzwischen angeblich auf der Datum genannt werden. Tilda hält das irgendwie für Betrug, nicht im Einklang mit dem Pioniergeist. Ich habe jedoch nie gewollt, dass einer von uns hier draußen leiden muss. Warum auch? Jedenfalls ist das meine Lösung, mein Kompromiss, der sicherstellt, dass meine Familie geschützt ist.
Von Rod ist
Weitere Kostenlose Bücher