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Die langen Schatten der Erleuchtung

Die langen Schatten der Erleuchtung

Titel: Die langen Schatten der Erleuchtung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirti Peter Michel , Klaus-Jürgen Leimann
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Jahre, in denen er noch täglich Kopfschmerzen hatte.
    Im Laufe der Jahre wuchs die Bedeutung der Kopierer im graphischen Gewerbe in dem Maße, wie die der Druckmaschinen abnahm. Und nun stand Harald schon seit zwei Jahrzehnten im gebügelten Oberhemd mit Krawatte hinter dem Altar seines Kopierers wie ein heidnischer Priester am Opferstein, der als einziger in die komplizierten Riten eingeweiht war. Er wurde in der Abteilung hinter kaum vorgehaltener Hand in einer Mischung aus Spott und Resignation „Master Copy“ genannt. Eine seiner gefürchteten Antworten an die Bittsteller von besonders eiligen Kopien lautete: „ Aba nich´ mer hoite! Ich habe gerade was Wichtiges für den Vorstand in der Maschine laufen! “ Die technische Entwicklung hatte also dazu beigetragen, dass Harald meinte, er drehe an dem ganz großen Rad.
    „Wollt ihr auch etwas essen, meine Lieben?“, riss Marlies sich zusammen und versuchte ihre trübsinnigen Gedanken zu verscheuchen. Hanif bejahte lebhaft.
    „Dann kann ich Jojo ja schon mal die Dusche zeigen!“, schlug Jutta vor und griff nach seinem Arm. Sie zog Jojo mit sich in Richtung Treppe, während Marlies die Tür des Kühlschranks öffnete. Hanif glaubte, einen Blick ins Paradies zu werfen - noch nie hatte er so viele Lebensmittel und Getränke gesehen. Marlies bereitete eine Platte aus Käse und verschiedenen Wurstsorten zu. In der Wohnung von Hubertus und Mathilda hörte man schon die Dusche laufen. Da Jojo fast die gleiche Größe wie Harald hatte, wählte Marlies aus dem Wäscheschrank ein kariertes Flanellhemd in Rot und eine alte Jeans aus. Hanif bedachte sie mit einer roten Latzhose, die ihr zu eng geworden war. Von der sie sich jedoch nicht trennen konnte, da sie immer noch hoffte, sie könnte sich mit der nächsten Diät wieder in dieses Schmuckstück zwängen. Sie ergänzte die Ausstattung für Hanif durch einen gelben Pullover, der ein ähnliches Schicksal erlitten hatte. Fürs erste wird das gehen! , dachte sie. Als Marlies mit dem Zeug nach oben ging, schaute Hanif nur kurz und gut gelaunt von seinem Teller auf. Oben traf sie Jutta, die wie ein Wachhund vor der Dusche stand, an dem kein Vorbeikommen war. „Leg das Zeug einfach hier hin, meine Liebe!“, meinte sie kurz angebunden. „Und wenn dein Kleiner gegessen hat, kann er auch kommen!“
    Eine halbe Stunde später saßen Jojo und Hanif in ihrer neuen Garderobe wieder am Küchentisch und tranken eine weitere Tasse Tee. Jojo wirkte in dem karierten Hemd noch breiter, während Hanif in seiner gelb-roten Kombination wie ein Clown aussah, der sich zwischen zwei Vorstellungen in seinem Wohnwagen erholte.
    „Na, dann wollen wir mal!“, schlug Jutta vor und trank den letzten Schluck Tee aus. „Los, Hanif und Jojo, wir wollen Schuhe kaufen gehen!“
    Auf dem Weg zum Geldautomaten der Bank meinte Jojo: „Wo fahren eigentlich alle diese Autos hin? Sind es immer die gleichen, die im Kreise fahren? Oder sind es jedes Mal andere?“
    Jutta blickte ihn verständnislos und zugleich belustigt an: „Das ist eine sehr gute Frage, Jojo! Und nicht leicht zu beantworten! Es sind nicht die gleichen, aber irgendwie doch! Sie fahren von hier nach dort. Und von dort nach hier zurück! Sie machen Geschäfte! Aber das kann jemand, der gerade wie ihr aus dem Urwald kommt, am ersten Tag noch nicht verstehen!“
    „Wir haben eine Bitte, Jutta“, meldete sich Hanif zu Wort, „wir können nicht so schnell gehen wie du. Wir sind diese Eile nicht gewohnt, schon gar nicht mit Sandalen!“
    „Oh, das tut mir leid, Jungs! Entschuldigung!“, und sofort verlangsamte sie ihren Schritt und hakte sich spielerisch bei Hanif und Jojo ein. „Gut so?“
    So bogen sie jetzt von der gepflasterten Nebenstraße auf die asphaltierte Hauptstraße ein. „Dort drüben ist auch schon der Geldautomat!“, erklärte Jutta und wies mit dem Zeigefinger auf das Eckgebäude der Bank.
    „Gib mir schon mal die Bankkarte, Jojo, und den Zettel mit der Geheimzahl!“
    Jojo griff in die Brusttasche seines Hemds und reichte ihr beides. In diesem Augenblick mussten sie einem Radfahrer ausweichen, der mit hohem Tempo auf dem Bürgersteig fuhr und auf sie zusteuerte. Als sie sich von dem Schreck erholt hatten, meinte Hanif: „Warum habt ihr es bloß alle hier so eilig?“
    „Das kann ich auch nicht sagen“, erwiderte Jutta, „ich glaube, wir kennen keine Langsamkeit. Das ist unser normales Tempo, und wenn es ginge, würden wir es noch beschleunigen!“
    Sie hatten

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