Die langen Schatten der Erleuchtung
schob sie ihm wortlos die Schachtel und das Feuerzeug über den Tisch. „Manchmal könnte man denken, ihr kommt aus dem finstersten Busch! Was ist Sport? – Ihr werdet es am Sonnabend erleben!“
Die Stille der Leerheit erlaubt es uns,
die Schreie der Welt deutlicher zu vernehmen.
Stephen Batchelor
Erste Nacht oder wie Hanif auf den Weg der schleichenden Versuchung gelockt wird.
Als Jojo und Hanif zum gemeinsamen Abendessen nach unten in die Wohnküche gingen, sahen sie grelles Licht durch die Türritzen des Zimmers am Ende ihres Flurs dringen. Gleichzeitig hörten sie ein Brummen, wie sie es aus dem Flugzeug kannten. Sie blickten einander achselzuckend an und stiegen dann die knarrende Holztreppe nach unten.
Jutta bestand darauf, dass Jojo neben ihr am Esstisch saß. Harald, Marlies´ Mann, saß ihnen gegenüber. Er war genau so groß wie Jojo, aber im Gegensatz zu ihm wirkte er kraftlos und müde. Seine schon gelichtete Frisur war von links aufwändig über den Rest des Kopfes gescheitelt. Er blickte ernst und unbestechlich wie ein Steuerprüfer über den Rand einer dunklen Hornbrille. Selbst jetzt beim Abendbrot trug er noch sein Oberhemd, und auch seinen Schlipsknoten hatte er um keinen Millimeter gelockert. Er reichte Jojo und Hanif müde seine schlaffe Hand und setzte sich still vor seinen Teller mit Schnittchen, die ihm Marlies zubereitet hatte. Dann schenkte er sich aus einer eigens für ihn reservierten Kanne Kamillentee ein.
Am Stirnplatz des Tisches saß Vera. Sie war um die fünfzig, von schlanker Statur und ihr praktischer Kurzhaarschnitt wies einige graue Strähnen auf, die sie jedoch nicht zu vertuschen suchte. Hinter ihren randlosen Brillengläsern hielten kritische Augen Wache über die restliche Welt. Sie musterte die beiden Neuankömmlinge freundlich und sachlich wie ein Zahnarzt, der seinen Gewinn bei einem neuen Patienten abschätzt, wenn er ihm das erstemal in den weit geöffneten Rachen blickt. Ihr Auftreten ließ keinen Zweifel daran, dass sie für plumpe, männliche Komplimente nicht zugänglich war. Sie war eine erprobte Feministin, die trotz ihrer üppigen Oberweite keinen Büstenhalter trug. Zurzeit war sie sich nur nicht sicher, ob sie um Parkplätze für Frauen oder um Kindergartenplätze kämpfen sollte. Sie trug einen zu großen, blauen Pullover, eine Kordhose und derbe Männerschuhe.
Marlies hatte inzwischen einen weiteren Teller mit Schnittchen, Tomaten und Gurken vorbereitet, den sie auf dem Kühlschrank neben einem zweisitzigen Rattanelement abgestellt hatte. Dann schlug sie energisch mit der Faust gegen die Wand. Für einen Augenblick war es still. Kurz darauf vibrierte der Fußboden leicht, als würde ein mächtiges Gewicht im Nebenzimmer auf die Holzdielen aufsetzen.
Ein junger Mann hatte unterdessen mit schlurfenden Schritten die Wohnküche betreten. Er bewohnte das Zimmer, aus dem das grelle Licht unter der Tür in den Flur fiel. Er war stark gebräunt und trug eine weiße Jeans zu einem weißen T-Shirt. Sein kurzes Haar war weiß-blond gefärbt. Er musste schon Mitte Zwanzig sein, gleichwohl ging etwas Unfertiges von ihm aus, als wäre er zu früh aus dem Brutkasten entlassen worden. Seinen Kopf hielt er immer etwas vorgereckt wie ein Königsgeier, der gerade gelandet ist und die letzten Schritte zu seinem Fraß geht. Mit einer linkischen Handbewegung deutete er in Richtung von Jojo und Hanif einen Gruß an: „Hi, ich bin der Gary!“ Er ließ sich an der freien Seite von Jojo mit einer Müslischale und mehreren Zutaten aus dem Küchenschrank nieder. Er musterte ihn argwöhnisch aus den Augenwinkeln, da Jojos Hautfarbe um etliche Nuancen dunkler war als seine.
Die Dielenbretter erbebten ein weiteres Mal. Eine Person im Nebenzimmer schien sich schwerfällig in Richtung Küche zu bewegen.
„Marlies“, näselte Harald zwischen zwei Schnittchen, „ich bringe Jutta und dich nachher gerne zur Party, aber ich bleibe nicht. Ich habe morgen einen anstrengenden Tag in der Firma. Ihr könnt ja ein Taxi zurück nehmen!“
Marlies nickte und nippte an ihrem Glas. Jutta schenkte Jojo Tee nach. „Selbstverständlich würde ich euch begleiten“, ließ Gary müde vernehmen, während er die Zutaten seines Müslis in seiner Schale verrührte, „aber mir steckt das Wochenende noch in den Knochen. Ich muss unbedingt mal richtig ausschlafen!“
„Für mich ist dieses Partygetue sowieso
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