Die Lanze des Herrn
Darunter befand sich eine Art Brunnen oder steingefasstes Becken. In der Nische musste früher eine Figur gestanden haben, vielleicht eine Heiligenstatue, deren Reste in die Mauervertiefung oder das Becken gefallen waren. Dazwischen ragte ein Mauervorsprung hervor, dessen einstige Vergoldung verwittert war und der an einen Kaminsims erinnerte. Enrico Josi war tief beeindruckt von der Ausschmückung der Kapelle. Die nördliche Wand war mit einem schwer beschädigten Mosaik versehen. Man konnte ahnen, dass seine vielen Tausend Glasstückchen äußerst fein gewesen waren und heute nur noch ein trauriger Abklatsch ihrer einstigen Pracht waren. Neben Blau-, Grau- und Pastelltönen war ein im Verlauf der Jahrhunderte verblasstes Gelb erkennbar sowie die verschwommenen Umrisse von Gestalten, die im Schatten lagen. Der Archäologe trat näher an das Mosaik heran und entfernte sich dann wieder. Er nahm die Details auf, die sich in seinen Brillengläsern spiegelten. Als er zum ersten Mal mit den anderen die Kapelle betreten hatte, hatten alle das Wunder schweigend bestaunt, so sehr hatte sie die Schönheit des Anblicks überwältigt. Enrico Josi hob einen Moment den Kopf im Halbdunkel, wie um zu lauschen. Dann sah er auf die Uhr. Es war Abend geworden. Damien Seltzner, Pater Ungaro und die israelischen Forscher waren draußen. Der eine schrieb jetzt bestimmt an seinem Bericht, der andere trank einen Kaffee im Licht der sich rot färbenden Sonne, während ein dritter eine E-Mail an die Jerusalemer Bibelschule und den Vatikan sandte, um von ihren ungeheuren Fortschritten zu berichten. Er würde auch gleich zu ihnen stoßen, aber es fiel ihm schwer, die Kapelle zu verlassen.
Als würde das Mosaik eine Geschichte erzählen, ging es ihm immer wieder durch den Kopf.
Es bestand aus mehreren Bildern. Den größten Teil der Fläche bedeckten die undeutlichen Züge eines Dämons in der Mitte. Er war als Madonna verkleidet, ein Anblick, der so ungewöhnlich war, dass er schockierte. So etwas war Enrico Josi noch nie begegnet. Aus dem Gewand der Kreatur in der Haltung einer Pietà ragte ein gespaltener Schwanz hervor. In den Armen hielt sie ein Kind. Ein als Jungfrau Maria verkleideter Dämon, der ein Kind wiegte? Eine Art umgekehrter Pietà? Was hatte eine solche Darstellung in einer christlichen Kapelle zu suchen? Was konnte sie bedeuten?
Im ersten Feld auf der linken Seite war eine Personengruppe zu sehen, Silhouetten zu Pferd mit Helm und Speer. Obwohl die Figuren stark verblasst waren, glaubte Damien Seltzner, dass es sich um römische Legionäre handelte. Enrico Josi teilte seine Meinung. Aus der Faust der ersten Gestalt, die sich von den anderen ein wenig abhob, ragte eine Art schwarzer Strich empor. Ein Schwert oder… eine Lanze! Bei dieser Entdeckung wurde den Archäologen vor Spannung ganz heiß. Gehörten die Legionäre zu einer Abordnung der Tempelwache? Und war der vordere Reiter Longinus? Das zweite Feld schien diese Vermutung zu bestätigen. Dieselben Soldaten ritten einen gewundenen Weg hinauf. War es der Hügel von Golgatha? An der Stelle, wo die drei Kreuze hätten stehen müssen, war das Mosaik so stark beschädigt, dass nichts mehr zu erkennen war. Die Steinchen waren zerfallen. Im letzten Feld rechts war deutlich ein feuerspeiender Drache mit weit aufgerissenem Maul, roter Zunge, gezacktem Hals und schuppigem Panzer zu erkennen. Die Stirn dieser eindrucksvollen Darstellung war mit Diademen verziert, und die schwarzen Augen des Ungeheuers funkelten furchterregend realistisch. Das Fabelwesen schien aus einem Ozean aufzusteigen, der sich aus Tausenden verschiedener verblasster Blautöne zusammensetzte. Darüber hatte der Künstler ein mit Sternen übersätes Firmament dargestellt. Aber das war noch nicht alles. Sie hatten bei der Entdeckung der Kapelle nicht gleich bemerkt, dass sich über der entstellten Pietà, zwischen dem Becken und der mittleren Nische, ein Vorsprung mit den Resten einer Goldverzierung befand. Mit seinen seitlichen Abrundungen erinnerte er an ein Pagodendach. Zwei staubige Bögen rahmten vor wenigen Stunden noch einen Gegenstand ein, der mittlerweile ebenfalls identifiziert war: eine Lanze, annähernd einen Meter fünfzig lang. Der Schaft allerdings war mit grünem Schimmel bedeckt und zur Hälfte verfault. Es waren nur noch Reste übrig, die unter einer trockenen Staubschicht lagen. Es war reine Intuition gewesen, dass Enrico Josi und sein Team auf die Idee gekommen waren, es könne sich um
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