Die Lanze des Herrn
eine Lanze handeln. Die Spitze selbst war mit Stoff umwickelt, der uralt zu sein schien und zu zerfallen drohte. Vielleicht handelte es sich tatsächlich um die Lanze des Longinus.
Die Spannung der Archäologen war bis zum Unerträglichen gestiegen.
Enrico Josi erinnerte sich daran, was er zu Damien Seltzner gesagt hatte.
»Stellen Sie sich vor, wir könnten Neues darüber erfahren, wie Jesus gestorben ist. Über die genauen Umstände seiner Kreuzigung wird noch immer diskutiert… Wie war die Lage seiner Arme auf dem Querbalken? Wie hing sein Körper genau?«
»Ja«, hatte der Franzose erwidert. »Und wenn es uns gelingen würde zu beweisen, dass die Lanze in der Hofburg gar nicht die richtige ist… Dass die echte Lanze des Longinus diese hier ist?«
Sie hatten einander lange schweigend angesehen. Sie wollten das Undenkbare noch nicht glauben. Jede Menge Analysen mussten noch erfolgen, bevor die vielen Einzelindizien zu einem schlüssigen Beweis wurden. Immer vorausgesetzt, dass alles übereinstimmte! Die Ergebnisse der Datierung, dann die der Untersuchung der Lanzenspitze, der Staubproben und schließlich der Überbleibsel des Lanzenschafts… Heute Nachmittag hatten sie alles sorgfältig in eine luftdichte Kiste gepackt und in einen der Jeeps geladen. Dann hatte man die frohe Nachricht an Dino Lorenzo geschickt. Die Kiste sollte zuerst unter Bewachung in die Bibelschule in Jerusalem und danach in den Vatikan gebracht werden. Enrico Josi selbst wollte auch bald nach Italien zurückkehren.
Und wenn wir recht hätten…? Das wäre das schönste Erlebnis meiner gesamten Laufbahn, dachte er.
Im Grunde wusste man nur wenig über Longinus und seine Lanze. Nur das Evangelium des Johannes erwähnte sie ausdrücklich. Johannes war auch der einzige Jünger Jesu, der wenigstens teilweise bei der Kreuzigung dabei gewesen war. Er hatte folgendermaßen davon berichtet:
»Weil Rüsttag war und die Körper während des Sabbats nicht am Kreuz bleiben sollten, baten die Juden Pilatus, man möge den Gekreuzigten die Beine zerschlagen und ihre Leichen dann abnehmen, denn dieser Sabbat war ein großer Festtag. Also kamen die Soldaten und zerschlugen dem Ersten die Beine, dann dem anderen, der mit ihm gekreuzigt worden war. Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon tot war, zerschlugen sie ihm die Beine nicht, sondern einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floss Blut und Wasser heraus. Und der es gesehen hat, hat es bezeugt und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, dass er Wahres berichtet, damit auch ihr glaubt. Denn das ist geschehen, damit sich das Schriftwort erfüllte: Man soll an ihm kein Gebein zerbrechen. Und ein anderes Schriftwort sagt: Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben.«
Das war alles. Mehr hatte die Bibel zu diesem Thema nicht zu sagen. Der Name des Longinus wird gar nicht erwähnt. Nach ihren langen Recherchen hatte ihnen Judith weitere Einzelheiten mitgeteilt. Der Legende zufolge wurde ein gewisser Cassius später auf den Namen Longin oder Longinus getauft. In einigen Texten hieß es, er sei danach Diakon geworden und habe als Prediger gewirkt. Er soll immer ein wenig vom Blut Jesu bei sich getragen haben, das er nach dem Lanzenstoß aufbewahrt hatte. Dieses Blut sei getrocknet, und er habe es mit ins Grab genommen. Allerdings war sein Grab nie gefunden worden. Man vermutete, dass er irgendwo in Italien bestattet war. Judith war der Meinung, dass sich seine letzte Ruhestätte bei Mantua in der Nähe des Gardasees befinden könnte, wo diese Überlieferung heimisch war, oder in Montefalco, der Heimat der hl. Clara, auf der Insel Bisentina im See von Bolsena. Aber das war alles recht vage. Nach einer anderen, kaum belegten Überlieferung, war Longinus in seiner Heimat Kappadozien gestorben. Dort soll er im ersten Jahrhundert den Märtyrertod erlitten haben, weshalb man ihn den hl. Longinus nannte. Selbst wenn das Schicksal des braven Legionärs wundersam genug war, bleibt die Frage offen, wie er gleichzeitig in Italien und in der Türkei sterben konnte… Enrico Josi lächelte leise. Wieder einmal waren die Grenzen zwischen Geschichte, Legende und Wahrheit fließend. Es ist phantastisch, dachte er. Was wir hier erleben, ist ganz einfach phantastisch. Wir befinden uns außerhalb der Zeit.
Der Archäologe klappte sein Heft zu und lauschte erneut, denn er vernahm dumpfe Schreie. Offenbar wurde gerade aufgeräumt, und man wollte gleich aufbrechen. In
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