Die Lanze des Herrn
Rollen wurden nach Wissensgebieten geordnet und nach Autoren. Homer, Sophokles, Euripides, Hippokrates, Aristoteles waren in verschiedenen Exemplaren vorhanden, die in Fächern in Wandschränken aufbewahrt wurden. Die antike Bibliothek soll bis zu siebenhunderttausend Rollen besessen haben. Daran hätten wir unsere Freude gehabt, Pater«, sagte der Direktor zu seinem Freund.
Sie bogen um die Ecke.
»Während der Belagerung Alexandrias durch Julius Cäsar geriet die Bibliothek in Brand, und als die Stadt dann von Amr ibn al-As erobert wurde, ordnete er die Zerstörung des alten Gebäudes an. Mit den Pergamenten sollen sechs Monate lang die viertausend Bäder der Stadt geheizt worden sein. In Wirklichkeit war die Bibliothek zu jener Zeit jedoch schon lange nicht mehr vorhanden.«
Er blieb stehen und breitete die Arme aus.
»Und da ist sie heute, auferstanden wie der Phönix aus der Asche.«
Nach dieser feierlichen Einführung forderte der Hausherr seine Besucher auf, sich an einen Tisch im Lesesaal zu setzen. Hier konnte man alte Manuskripte und seltene Bücher zu Tausenden einsehen. Unweit vom Eingang lag der berühmte Katharinenkodex bereit, den der Mönch Yoris mitgebracht hatte. Er war an der Stelle aufgeschlagen, die Fombert suchte. Der Pater setzte seine Brille auf. Judith nahm an einem Nachbartisch Platz und stellte ihren Laptop an, um die neuesten Informationen Kardinal Lorenzos zu lesen. Der Mönch Yoris und Pater Fombert beugten sich indessen über die berühmte Handschrift.
»Sieh an! Sie ist in griechischer Unzialschrift verfasst, mit zwei Kolumnen auf jeder Seite«, begann Fombert, »und jede Kolumne enthält zwischen 46 und 52 Zeilen, und jede Zeile 20 bis 25 Buchstaben. Er ist es. Er heißt Kodex Paulus, vielleicht nach einem seiner Verfasser. Auf der ersten Seite steht etwas Unverständliches, offensichtlich Arabisch. Es fehlen Passagen aus Matthäus, Johannes und dem Korintherbrief. Aber vor allem enthält der Kodex wunderbare Illuminationen. Man hat sie unter jeden Abschnitt eingefügt und mit Kommentaren versehen, die mit Miniaturen verzierter Großbuchstaben beginnen. Jeder Zeilenanfang ist mit roter Tinte geschrieben. Der Kodex enthält etwa sechshundert sehr alte Blätter, die Illuminationen sind Ende des 13. Jahrhunderts entstanden. Sie sind mit Blattgold verziert und stammen wahrscheinlich aus der Zeit, als das Manuskript gebunden wurde. In Kalbsleder, wie es scheint. Und hier, sehen Sie, hier ist das, wovon ich gesprochen habe. Sehen Sie sich das an!«
Er wandte sich zu der jungen Frau. Sie sah auf den ersten Blick, dass der Pater recht hatte. Die Illumination, auf die er zeigte, stellte einen Ritter dar, vermutlich einen Templer, der eine Festung verließ. Sein Umhang flatterte im Wind, und auf seinem mit einer Rüstung geschützten Schlachtross schien er Angst und Schrecken zu verbreiten. Die feindlichen Scharen, offenbar Muslime, wichen zutiefst erschrocken vor ihm zurück. Man hob die Hände, als habe man Furcht, der Himmel könnte sich öffnen, und ließ Bogen und Krummsäbel fallen. Der Ritter hielt eine Lanze mit zwei beweglichen Widerhaken in die Höhe, vor der offensichtlich alle Angst hatten. Sie strahlte wie eine Sonne, und die Blitze, die aus ihr hervorschossen, waren fächerförmig über das ganze Bild verteilt.
»Da! Die Schicksalslanze. Und hier handelt es sich nicht um eine Geschichte aus der Bibel«, sagte Pater Fombert sehr aufgeregt. »Diese Illuminationen stammen aus späterer Zeit. Hier haben wir ein historisches Zeugnis! Die Lanze, da ist sie!«
Judith zog die Brauen zusammen.
»Dann wäre dieser Templer derjenige, dessen Grab gleich neben dem Grab Petri gefunden wurde?«
»Ja, wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich sogar. Ende des 13. Jahrhunderts, 1292, die Schlacht von Akko. Ohne Zweifel spielt dieses Bild darauf an. Und die Symbolik ist klar. Wer die Lanze hat, der ist allmächtig. Das kann kein Zufall sein.«
Der griechische Mönch Yoris, der bisher kein Wort gesagt hatte, strich sich über den grauen Bart und sagte mit starkem Akzent:
»Dann hätte also Ihr römischer Legionär Longinus die Lanze in der Kapelle versteckt, und sein Testament wäre nach der Zerstörung des Tempels in die Hände der Essener gelangt. Und später müsste der Kreuzritter von Akko sie gehabt haben? Wenn sich aber die Lanze seit dem Tode Jesu in der Kapelle befand und die Illumination die Tatsachen darstellt, dann hätte er sie sich angeeignet und danach wieder an ihren Ort
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