Die Lanze des Herrn
würde. Aber auch der wahre Messias würde kommen. Die Ordnung war zerstört, Jerusalem war zerstört und in den Höhlen, die wie Gräber waren, träumten die Menschen, die das Ende einer Welt erlebt hatten, von der Geburt einer neuen.«
Judith lächelte. Pater Fombert war nicht der einzige Bibelforscher, den sie kannte, der eine lyrische Ader hatte.
»Gut«, sagte sie. »Aber damit wissen wir immer noch nicht, wie die Pergamente in den Vatikan gelangt sind.«
»Das weiß ich auch noch nicht, aber unser Freund Yoris und die Mönche vom Katharinenkloster haben vielleicht die Antwort auf diese Frage.«
Damit wandte er sich zu Yoris um, der sich über den Bart strich und seine braune Kopfbedeckung zurechtrückte. Judith sah ihn kurz an. Seit Beginn ihrer Fahrt hatte er noch kein Wort gesagt. Judith wechselte verwirrt einen Blick mit Anselmo, der ebenfalls geschwiegen hatte. Schon setzte Pater Fombert von Neuem an.
»Eines Tages erfuhr ich, dass in einem Kodex, der in St. Katharinen aufbewahrt wird, Longinus und die Lanze ebenfalls erwähnt werden. Ich habe mich an die Mönche gewandt, ob ich ihn einsehen darf. Yoris war so freundlich, ihn nach Alexandria zu bringen. Er liegt sicher in der Bibliothek.«
»Inwiefern kann er uns weiterhelfen?«, fragte Judith.
Fombert rollte die Pergamente wieder zusammen, wickelte die Bänder darum und sagte, während er Judith im Rückspiegel ansah:
»Darauf komme ich gleich zu sprechen. Ich habe mich auch mit den Mosaiken in der Kapelle von Megiddo befasst. Und ich glaube, ich habe eine Entdeckung gemacht. Wir wussten, dass die hebräischen und aramäischen Texte, die dem Testament hinzugefügt wurden, auf das Armageddon anspielen, auf die letzte Schlacht, von der auch die Offenbarung des Johannes handelt. Mit der Zerstörung des Tempels wurden die Essener Zeugen eines Ereignisses, das so etwas wie ein Armageddon war. Gewiss ist Ihnen noch die Prophezeiung in Erinnerung, dass sich im Jahr 5766 das Gute und das Böse einen gnadenlosen Kampf liefern werden, um die Lanze zu erobern. Anfangs habe ich darüber geschmunzelt. Bis mir etwas höchst Beunruhigendes auffiel. Denken Sie an den Drachen und die verkleidete Madonna, die Enrico Josi so irritierten. Bei dem in der Kapelle dargestellten Himmelsgewölbe handelt es sich um eine Himmelskarte!«
Judith versuchte sich an die Aufnahmen von der Kapelle zu erinnern, die Enrico Josi kurz vor dem Massaker an Kardinal Lorenzo geschickt hatte. Sie fragte sich, wie die Sterne um den Drachen und die blasphemische Pietà angeordnet gewesen waren.
»Ich bin meiner Eingebung gefolgt und habe mich eine Weile mit dem Thema beschäftigt. Auf der Karte kann man deutlich den Abendstern ausmachen oder, wie er auch heißt, die Venus. Aus ihrer Stellung auf dem Mosaik lassen sich die Positionen der anderen Sterne erschließen. Ich habe mich gefragt, ob deren Anordnung zufällig ist. Niemand weiß, wer die Mosaiken geschaffen hat. Vielleicht die Wächter der Kapelle, Freunde des Longinus, denen er sein Geheimnis anvertraut hatte.«
Pater Frombert kratzte sich die Stirn.
»Ich habe über das Bild der Madonna nachgedacht«, fuhr er fort. »Ich habe in dem Sternenhimmel zunächst eine Metapher gesehen, das Firmament, wie man es sich am Abend der Verkündigung vorstellte oder vielleicht am Abend von Christi Geburt. Dann habe ich mich gefragt, ob die Sterne nicht etwas verkünden könnten, die neue Apokalypse oder die Geburt des angeblichen zweiten Messias. Ich habe zwei weitere Freunde befragt, zwei Astronomen. Und nun bin ich über meine eigenen Ergebnisse verblüfft. Aus der Sternen der Kapelle und den Informationen des Testaments ergibt sich eine Karte des Himmels, wie er in wenigen Tagen aussehen wird.«
Judith sah ihn erstaunt an.
»Mit anderen Worten«, fuhr Pater Fombert fort, »vielleicht sollte man die Prophezeiungen der Pergamente und der Kapelle durchaus ernst nehmen. Denn sie geben ein Jahr, einen Tag und eine Uhrzeit an. Und die Texte, die von den Essenern dem Testament des Longinus hinzugefügt wurden, bestätigen diese Angaben.«
Pater Fombert drehte sich wieder um, unsicher, ob er selbst glauben sollte, was er da gerade vorgebracht hatte. Judith war völlig verblüfft. Einerseits fragte sie sich, ob die zweideutigen Symbole und Beziehungen tatsächlich einen Sinn ergaben, andererseits konnte sie nicht leugnen, dass sie höchst irritiert war.
»In zwei Tagen, bei Sonnenaufgang«, sagte Fombert.
Sie näherten sich der Bibliothek, während
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