Die Lanze des Herrn
die Lichter der Stadt am Meer an ihnen vorbeizogen. Hier gab es keine zwischen den Hausdächern emporragenden Minarette, keinen Götterfluss Nil, keine antiken Ruinen und verwinkelten Gässchen. Zum Meer geöffnet, von seiner langen Uferstraße gesäumt, am geschäftigen Hafen mit Palmen wie gespickt, war die Stadt ein zweites Tanger. Die kosmopolitische Atmosphäre und die prachtvollen Gebäude früherer Zeiten kündeten von ihrer vergangenen Größe. Alexandria! Vor 2300 Jahren von Alexander dem Großen gegründet, bildete die Stadt noch heute eine Brücke zwischen Okzident und Orient. Im dritten vorchristlichen Jahrhundert, als zweiundsiebzig Gelehrte die Septuaginta übersetzten, lehrten an ihrer Akademie die größten Denker der damaligen Welt. Unter den ersten Ptolemäern blühte Alexandria auf und entwickelte sich zur zweitwichtigsten Stadt des Römischen Reiches. Später wurde sie zu einem Mittelpunkt für das sich ausbreitende Christentum. Judith erinnerte sich daran, sich im Vatikan mit der Sekte der Arianer und den Ideen des Origines befasst zu haben. Manchmal hatte sie von dieser Stadt geträumt. Nachdem Mohammed Ali sie erobert hatte, ließ er sich auf der Insel Pharos einen Palast errichten, bevor er im alten Westhafen das Arsenal bauen und einen Kanal bis zum Nil graben ließ. Judith kannte Alexandria nur aus Büchern, und jetzt lag es vor ihr, wie sie es sich immer vorgestellt hatte: kosmopolitisch und bunt, eher mediterran als arabisch. Sie bedauerte, bei Dunkelheit und unter solchen Umständen dort zu sein.
Sie fuhren die Corniche entlang, die drei Kilometer in einem eleganten Bogen am Osthafen vorbeiführte, dem ehemaligen Portus Magnus der Antike. An seinem nördlichen Ende, hinter dem Yachtklub und den Bootswerften, konnte man die Insel Pharos erahnen, auf der heute das Fort Qaitbay lag, ein massiver, aber eleganter quadratischer Festungsbau, Überbleibsel des arabischen Verteidigungssystems. Dort hatte der Leuchtturm von Alexandria gestanden, den Sostratos von Knidos unter den Ptolemäern errichtet hatte. Eines der sieben Weltwunder der Antike.
Judith lächelte bei dem Gedanken an das Leuchtfeuer, das die Nacht aus einer Höhe von hundertzwanzig Metern erhellt hatte. Der gigantische Turm hatte mehrere Stockwerke und verjüngte sich nach oben. Ein loderndes Feuer, das auf eine Entfernung von hundert Meilen zu erkennen war, brannte ohne Pause auf seiner obersten Plattform. Ein Erdbeben beschädigte den Leuchtturm so sehr, dass man ihn irgendwann abriss. Im Norden der Insel lagen noch seine Steine im Meer.
Endlich erreichten sie den freien Platz vor der Bibliothek.
»Ismail Zegloul, der Direktor, ist ein Freund von mir«, sagte Pater Fombert. »Deshalb dürfen wir zu dieser späten Stunde hinein.«
Judith hatte das Gefühl, sich einem höchst außergewöhnlichen Tempel des modernen Wissens zu nähern. Der Direktor ging vor seiner Bibliothek auf und ab und wartete wie ein Zeremonienmeister auf sie. Der große, schwarzhaarige Mann mit der Adlernase, den mandelförmigen Augen und hohen Wangenknochen wurde von zwei Wächtern begleitet. Er war Mitte fünfzig und trug einen anthrazitfarbenen Anzug mit Krawatte. Das Auto hielt an. Fombert dankte dem Fahrer und stieg mit Judith, Anselmo und dem Mönch Yoris aus.
Man gab sich die Hand.
Judith ging an den Plaketten vorbei, auf denen die Namen der Länder eingraviert waren, die zum Bau der neuen Bibliothek beigetragen hatten. Nicht viel später betraten sie den Lesesaal. Die Wächter machten Licht. Judith sah mit Staunen zu, wie eine Lampe nach der anderen anging. In dem Saal befanden sich über dreitausend Plätze, und er stand der Bibliothek des Vatikans, in der die junge Frau so viele Stunden an alten Manuskripten gearbeitet hatte, in nichts nach. Wie man bereits von außen erkennen konnte, ragten die verschiedenen Ebenen dieses modernen Heiligtums jeweils schräg in den Raum. Das Gebäude umfasste siebzigtausend Quadratmeter auf elf Etagen in halbzylindrischer Form und lag vor der Halbinsel Silsila an der Stelle des antiken Gebäudes, oder zumindest ganz in der Nähe, da man heute nicht mehr weiß, wo genau die alte Bibliothek gestanden hatte.
»Die neue Bibliothek hat die Legende eingeholt und nimmt im Mittelmeerraum wieder die erste Stelle ein. Damals gelang es Demetrios von Phalera, einem Schüler des Aristoteles, Ptolemäus von dem unglaublichen Projekt zu überzeugen, alle Bücher der damals bekannten Welt an einem Ort zu versammeln. Die
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