Die Lanze des Herrn
eine Aufforderung zum Frieden oder eine Herausforderung an die Armeen der Welt.
Nun wandte sich Pater Fombert zu ihr um, tippte mit dem Finger auf die Zeichnung und sagte, nachdem er seinen Zweihundert-Dollar-Hut zurechtgerückt hatte, der ihm vom Kopf zu rutschen drohte:
»Hier müssen die Pergamente des Longinus aufbewahrt worden sein. In diesem weißgoldenen Tempel, der prächtiger als die Sonne war. Ich vermute, dass die Pergamente Teil des Schatzes waren, der am Tag vor der Erstürmung der Stadt in Sicherheit gebracht wurde. Wie ich Ihnen schon sagte, wurde meine Annahme bestätigt. Ich habe mehrere Freunde zu Hilfe gerufen, Linguisten, Philologen, Kenner der alten Varianten des Hebräischen und Aramäischen. Es gibt da Stellen, die es ganz deutlich sagen. Zuerst wollten die Römer, wenn man Josephus Flavius glauben darf, die Schatzkammer verschonen, und sei es nur, damit zukünftige Jahrhunderte den Ruhm des Titus verkünden. Aber das Schicksal hatte es anders beschlossen. Der Chronist erzählt, wie auf dem Höhepunkt des Kampfgetümmels einer der Soldaten aus eigenem Antrieb ein brennendes Stück Holz durch ein Fenster warf und das Allerheiligste sogleich Feuer fing. Rundherum brannte es, man kämpfte in einem Feuerofen. Wer stürzte, wurde totgetrampelt. Eine riesige Feuersbrunst brach aus, der Tempel war verloren und mit ihm ungezählte Schätze.«
Judith räusperte sich.
»Angenommen, man hätte die Pergamente im Tempel aufbewahrt. Sind sie dann nach der Eroberung Jerusalems den Essenern von Qumran in die Hände gefallen?«
Fombert faltete die Zeichnung zusammen und steckte sie behutsam in seine Aktentasche. Das Taxi fuhr auf einer von Palmen gesäumten breiten Straße in dichtem Verkehr zum Meeresufer. Pater Fombert öffnete das Fenster, um die angenehme Abendluft hereinzulassen.
»Aller Wahrscheinlichkeit nach«, erwiderte er. »Nach dem Sieg feierte man den Triumph des Kaisers und anschließend teilte man die unermessliche Beute auf. Der größte Teil Jerusalems wurde dem Erdboden gleichgemacht. Aber wie Sie ja wissen, wurde der Tempelschatz in ganz Judäa verstreut. Vor der entscheidenden Schlacht fuhren Nacht für Nacht heimlich Wagenzüge aus der Stadt. Auch manche Bewohner flohen aus Angst bis nach Galiläa. Das Testament des Longinus muss unter den geretteten Schätzen gewesen sein. Ich habe mein Leben damit verbracht, den Tempelschatz zu finden. Vielleicht habe ich nun wenigstens ein Stück davon gefunden.«
Wieder wandte er sich zu der jungen Frau um und lächelte.
»Ich glaube, die Pergamente wurden im Tempel aufbewahrt, vielleicht sogar im Allerheiligsten. Einem Unbekannten, einem Soldaten oder vielleicht auch einem einfachen Hirten gelang die Flucht mit diesem Stück des Schatzes. Wahrscheinlich fand er Unterschlupf bei den Essenern. Wir haben auf dem Pergament Spuren von Wachs, Ton, aber auch von Sand und Salz gefunden, die aller Wahrscheinlichkeit nach vom Ufer des Toten Meers stammen.«
Judith nickte. Die Funde unterstützten ihre These. Die Essener waren strenge Asketen, die sich auf die Mosaischen Gesetze rückbesinnen wollten. Sie waren kompromisslose Gelehrte und verachteten die jüdischen Schriftgelehrten. Sie hielten sich für die letzten Gerechten. Die meisten von ihnen lebten im Kloster und hatten ein Keuschheitsgelübde abgelegt. Ungeduldig warteten sie auf die Rückkehr des Messias aus dem Stamme Davids, damit er der verdorbenen Welt ein Ende machte. Dann würden die Söhne des Lichts kommen, um gegen die Söhne der Finsternis zu kämpfen. Die Tragödie, die über die Juden hereingebrochen war, dürfte ausgereicht haben, um die alten Streitigkeiten zwischen den Opferpriestern in Jerusalem und den Essenern zu beenden. Nun ging es nur noch darum, ihre Erinnerungen, ihr Leben und überhaupt alles zu retten, was zu retten war. In dieser Lage waren die Essener für die Jerusalemer Priester die letzte Rettung gewesen. Sicher lagen die Pergamentrollen des Longinus für eine Weile in den berühmten Tonkrügen von Qumran, irgendwo im Herzen der Berge.
»Auch die Essener wurden verfolgt, und auch sie schrieben ihre letzten Prophezeiungen auf«, fuhr Pater Fombert
fort. »Zwischen den Zeilen des Longinus kündigten sie den Letzten Tag an, wo der entscheidende Kampf zwischen Gut und Böse stattfinden sollte, sowie das Erscheinen des zweiten Messias. Nach dem Umlauf der Sterne rechneten sie Jahr, Tag und Stunde aus, da der Drache wiederkehren und es zu einer anderen Apokalypse kommen
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