Die Lanze des Herrn
versuchen, die Reliquie zu retten, denn die Stunden der weißen Stadt waren gezählt. Mit hartem Gesicht befahl er:
»Man reiche mir die Lanze.«
Al Malik al-Asraf sprach sehr leise, die Augen auf die Festungsmauern gerichtet. Das Quartier der Templer lag in Hafennähe. Von seinem Platz aus konnte der Sultan die hohen Türme mit ihren prächtig vergoldeten Löwen erkennen. Die Stadt verfügte noch über den Zugang zum Meer. Auf der Landseite war sie durch einen doppelten Mauerring geschützt, der von neuen, widerstandsfähigen Wehrtürmen verstärkt wurde. In der Altstadt lebten zahlreiche Pisaner, Venezianer und Genueser im Schutz der verschiedenen Orden, die sich im Heiligen Land niedergelassen hatten, vor allem Templer, aber auch Johanniter und Deutschritter. Im Norden erstreckte sich die Vorstadt Montmusart, die Achillesferse Akkos.
Beim Eintreffen des Sultans beherbergte die Stadt nur fünfzehntausend Soldaten, darunter sieben- bis achthundert Ritter. Verglichen mit den zweihundertdreißigtausend Sarazenen, die Akkon belagerten, waren das wenige Verteidiger. Auch das Arsenal der Sarazenen war dem der Stadt überlegen. Man hatte Kriegsmaschinen mitgebracht, die den Heerscharen wie ein Gewitter gefolgt waren. Vier riesige Steinschleudern wurden durch kleinere Wurfmaschinen ergänzt, die infolge ihres geringeren Gewichts leichter zu handhaben waren.
An diesem Morgen würde ein einziges Zeichen von Al-Malik al-Asraf Chalil genügen, damit die gefürchteten Maschinen näher an die Stadt heranrollten. Schon vor Wochen waren sie aufgebaut worden. Unablässig schleuderten sie Steine auf das weiße Akko, während sich gleichzeitig Tag für Tag ganze Heerscharen von Arbeitern an den Mauern verteilten, um deren Fundamente zu zerstören. Es ging um einen hohen Einsatz. Die Zeiten, da die Kreuzritter unangefochten über das Heilige Land geherrscht hatten, waren vorbei. Die alten Bastionen des christlichen Reiches im Vorderen Orient waren nacheinander von den Sarazenen erobert worden: Port Bonnet, Roche Roussel und Terbezek, Tortosa und Tripoli bei Antiochien, Saphet und noch viele andere. Seit der Schlacht bei Hattin hatten sich die Kreuzritter unablässig zurückziehen müssen. Vor einem Jahrhundert hatte Sultan Saladin alle Gläubigen unter seiner Herrschaft vereinigt und dann mit der ruhmreichen Rückeroberung begonnen. Akko, Haifa, Beirut, Askalon und schließlich Jerusalem waren gefallen. Die Franken hatten sich danach noch ein Jahrhundert im Heiligen Land gehalten, in einem christlichen Königreich, das sich auf den Küstenstreifen beschränkte. Die Festung Akko hatten sie 1191 zurückerobert und zu ihrer neuen Hauptstadt gemacht. Genau hundert Jahre hatte es gedauert, bis Sultan Al-Malik al-Asraf wieder seine Zelte vor den Mauern Akkos aufgeschlagen hatte, um die letzten Christen zu vertreiben.
Am Abend des Vortags war ein Teil des strategisch besonders wichtigen neuen Turms zerstört worden. Jetzt brauchte der Sultan seinen Vorteil nur noch zu nutzen.
Sie ist in meiner Hand, sagte er sich.
Er lächelte. Wie einst Sultan Saladin hatte auch er Geduld bewiesen und sein ganzes militärisches Können für die nun kommende letzte Schlacht gesammelt, um in Erinnerung an sein großes Vorbild zum entscheidenden Schlag auszuholen. Die Stunde war gekommen, das Werk seines berühmten Vorgängers zu vollenden.
Alles um den Sultan herum betete noch.
Die Fatida, die erste Sure des Korans.
Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen.
Lob sei Gott,
dem Herrn der Welten,
dem barmherzigen Erbarmer,
dem Herrscher des Gerichtstages.
Schließlich breitete Al-Malik Al-Asraf die Arme aus. Mit lauter Stimme rief er:
»Erhebet euch!«
Da richteten sich von Osten bis Westen zwischen den Zelten und dem Meer zweihundertdreißigtausend Mann auf und entrollten ihre Fahnen. Die Franken ließen ihre im Morgenlicht blitzenden Trompeten erschallen. Im Herzen der Festung von Akko erbebte selbst das tapferste Herz.
♦♦♦
Außerhalb der Mauern rannte ein Kind durch die winkeligen Gassen, die den Hafen mit der Festung der Templer verbanden. Hinter ihm quollen schwarze Rauchfahnen aus den Türmen. Auch an anderen Stellen war Feuer ausgebrochen. Unzählige Pfeile flogen wie Mückenschwärme in die Stadt und verdunkelten die Sonne. Sie summten wie die Heuschrecken der biblischen Plage. Panik breitete sich unter den Bewohnern der Stadt aus. Die feindliche Flut griff den Großmeister der Johanniter an, Jean de Villiers, der
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