Die Lanze des Herrn
erahnen gewesen war.
Die Soldaten um sie herum sammelten alles ein, dessen sie habhaft werden konnten. Sie untersuchten jeden Winkel. Ingenieure und Informatiker der Geheimdienste nahmen vor den Computern Platz, um an die darin gespeicherten Daten zu gelangen und die Festplatten auszubauen. Die Professoren Li-Wonk, Yzamata, Ferreri und Sparsons in ihren weißen Kitteln, von Soldaten in Schach gehalten, bildeten einen Halbkreis in der Nähe des Bettes.
Und im Herzen dieses Allerheiligsten fiel Judiths Blick auf die Leihmutter.
Die zitternde Elena lag noch immer auf dem Bett.
Judith ging zu ihr. Die beiden Frauen sahen einander an.
Elenas Pupillen flackerten vor Angst. Sie schrie nicht mehr.
Was haben Sie getan! Was haben Sie nur getan?!, hätte Judith am liebsten zu ihr gesagt, aber sie schwieg.
Sie erkannte sogleich die Schicksalslanze in ihrem durchsichtigen Behälter. Sie sah das blitzende Eisen mit den beweglichen Klingen, ein Lichtfunke tanzte auf ihrer Spitze, die an einem schwarzen Schaft befestigt war.
Die Lanze der Allmacht…
Judith blickte auf Elenas Bauch, ihre Beine und wieder auf ihr Gesicht.
Sie war sich sicher, dass in diesem Schoß neues Leben keimte.
Ein paar Minuten später nahm sie ihr Handy zur Hand, das man ihr zurückgegeben hatte.
»Hier ist Judith«, sagte sie mit tonloser Stimme.
Ein langes Schweigen folgte. Benommen kniff sie die Augen zusammen, sie stand kurz davor, ohnmächtig zusammenzubrechen.
«Zu spät. Es ist geschehen.«
Wer den Embryo beherrscht, der beherrscht die Welt.
Dritter Teil
Und die Wüste erblüht aufs Neue
8. Kapitel
Akko, 1291, Komturei Saint-Clair-sur-Epte, Frankreich, 1307
»Es war in Akko im Jahre MCCXCI, als sich das Schicksal des Königreichs im Vorderen Orient entschied. Da ließ ich, Bertrand de Raguenaud, Tempelritter der Komturei von Saint-Clair, die Zahl MCCXCI auf meinen Schild gravieren. An jenem Tag im Mai, da der Sultan vor unseren Toren stand, hielt ich die Lanze Christi in der Hand. Ja, in jenen dunklen Tagen war sie mein, die Schicksalslanze.«
Erinnerungen des Kreuzritters Raguenaud, sogenanntes Manuskript von Akko, 1307
Als Sultan Al-Malik al-Asraf Chalit sein Zelt verließ, ging die Sonne rot am Horizont auf. Braun gebrannt und mit stolzer Miene hatte der Sultan die Hand am Bart, während er die Festungsmauern von Akko musterte. Die weiße Stadt, wie sie auch genannt wurde, war die Perle der Kreuzritter in Palästina. Der letzte, am Mittelmeer gelegene Vorposten der Christenheit. Al-Malik al-Asraf trug Helm und Rüstung. An seiner Hüfte hing ein Krummsäbel. Sein Umhang flatterte in der Morgenbrise, die bald der Hitze und dem Staub aus der Wüste weichen würde. Seinen Blick auf die Mauern der Feste geheftet, die in der Morgensonne in allen Farben schimmerten, schien er die Stadt mit den Augen zu liebkosen wie einen seit Langem begehrten Schatz. Er sagte leise etwas zu sich selbst, während ein Diener seinen Gebetsteppich vor ihm ausrollte. Heute war endlich der große Tag gekommen.
Der Sultan hatte sein prächtiges rotes Zelt inmitten seines Lagers auf einem Hügel nahe bei einer antiken Turmruine errichten lassen. Von allen Seiten erschallte nun der Lobpreis Allahs. Er kniete nieder. Seine Gefolgschaft tat es ihm nach und warf sich ebenfalls zu Boden.
Hundertfünfzigtausend Fußsoldaten und achtzigtausend Reiter lagerten mit dem Sultan vor der Feste von Akko. In diesem Augenblick lag eine wahre Menschenflut auf den Knien, um zu beten. Vor wenigen Tagen hatte sein Heer das Lager so flink errichtet, dass es wie durch Magie aus der Erde zu wachsen schien. Die Sarazenen hatten bereits die Gärten und Weinberge der Templer außerhalb der Mauern verwüstet und die Stadt mit einem Ring umzingelt, der von Norden bis in den Süden reichte. Einzig der Hafen war noch frei. Mit gerunzelter Stirn verbeugte sich Al-Malik al-Asraf dankend vor Allah. Bis zum Horizont beteten seine Leute zusammen mit ihm.
An jenem Tage wird Gott der Herr sein
Und er wird über die Menschen richten.
Diejenigen, welche geglaubt haben
Und gute Werke vollbracht haben,
Werden in den Garten der Wonne eingehen.
Diejenigen aber, die nicht geglaubt haben
Und unsere Zeichen wie Lügen behandelt haben,
Sie werden eine schmachvolle Strafe erleiden.
Danach erhob sich der Sultan und sah mit feurigem Blick zu den Mauern hinüber, die ihm keine Ruhe ließen. Er atmete tief ein und reckte sich wie jemand, der gerade erwacht ist. Ein
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