Die Lanze des Herrn
das Stadttor Sankt Antonius verteidigte. Guillaume de Beaujeu kämpfte an seiner Seite, die Stirn schwarz und blutig. Hoch zu Ross erteilte er zwölf Tempelrittern Befehle, die sich um ihn und die schwarzweiße Ordensfahne drängten. Die Bewohner des Hafens flohen, retteten sich in die letzten Boote, die man in aller Eile ausgerüstet und seetüchtig gemacht hatte. Eines nach dem anderen fuhren die Schiffe aufs Meer hinaus, während die Brandgeschosse des Feindes wie brennende Bomben in die Stadt flogen, ein grandioses und zugleich furchtbares Schauspiel. Das Kind stürzte sich nun völlig außer Atem die Treppe der Festung hinauf. Als es auf dem Turm angekommen war, fiel es vor dem Ritter Bertrand auf die Knie, der nach einem langen Gebet mit den Mönchen in seine Überlegungen vertieft war. Nun richtete er sich auf. Das Kind sagte keuchend:
»Guillaume de Beaujeu schickt mich. Die Sarazenen dringen in die Stadt ein. Wir können sie nicht mehr lange halten.«
»Und du, mein Kleiner, warum bist du nicht geflohen?«, fragte Bertrand.
Der Ritter ging auf den Jungen zu und legte ihm die behandschuhte Hand auf die Schulter.
»Renne zum Hafen zurück und springe in ein Boot, solange noch Zeit ist.«
»Aber was ist mit Ihnen, gnädiger Herr, und mit den anderen Rittern?«
Bertrand wollte ihm gerade antworten, als ein Mönch die Treppe heraufeilte und atemlos vor ihnen stehen blieb.
»Guillaume ist verletzt worden. Ein Pfeil hat ihn unter dem Arm getroffen!«
»Bei allen Heiligen«, stieß Bertrand zwischen den Zähnen hervor.
»Er hat das Schlachtgetümmel verlassen, und die Truppen wissen nicht mehr, was sie machen sollen!
›Ich fliehe nicht‹, hat Guillaume gebrüllt. ›Ich fliehe nicht, ich bin schon so gut wie tot!‹
Er ist tatsächlich tödlich getroffen. Man bringt ihn gerade in die Feste.«
Die drei sahen sich an. Lange herrschte Schweigen.
Dann gab Ritter Bertrand dem Jungen ein Zeichen:
»Geh!«, sagte er.
Der Junge sah ihn ein letztes Mal an, dann wandte er sich um.
»Ihr Pferd ist bereit«, sagte der Mönch. »Und die Lanze auch. Guillaume übergibt sie Ihnen zu treuen Händen.«
Bertrand ging in seiner Rüstung auf die Treppe zu.
»Gut. Der Moment ist gekommen. Etienne, folge mir.«
Auf dem Platz wartete Bellerophon, geharnischt und gepanzert. Über ihnen knatterte die Fahne der Templer im Wind. Blutverschmierte Soldaten trugen den Großmeister Guillaume auf einer Trage vorbei. Er war noch nicht tot. Ritter Bertrand war schon auf sein Pferd gestiegen. Er streckte den Arm aus, um die Schicksalslanze in Empfang zu nehmen, als Etienne sich ihm respektvoll mit der Waffe näherte.
Die behandschuhte Hand des Ritters schloss sich um ihren Schaft.
»Guillaume«, rief er seinem sterbenden Waffenbruder zu.
Er sah auf die zur Sonne gerichtete Lanze. Ihre Spitze funkelte im Licht.
»Für dich, Guillaume!«
Fest schob er sich die Waffe unter die Achsel.
»Öffnet das Tor!«
Das Pferd drehte sich mit einem lauten Wiehern, bäumte sich auf, und dann erklang das Klappern seiner Hufe auf dem Pflaster. Bertrand klopfte ihm auf die Flanke und rief: »Saint-Clair!«
Damit begann sein Ritt.
Die Mönche sahen dem Kreuzritter nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
Das Bild des Ritters mit der Lanze sollten die Überlebenden von Akko lange nicht vergessen. Eines Tages fertigten die Mönche Miniaturen und Illuminationen der Szene an und legten sie in der geheimnisvollen Stille ihres Wüstenklosters in einen ihrer Kodizes.
Der Ritter mit der Lanze war aus der Festung geritten. Niemand hielt seinen Ritt auf. Er galoppierte durch Akko, die Lanze in der Faust, während die Menge von den allgegenwärtigen Sarazenen durch die Straßen gehetzt wurde. Wie eine Flut überschwemmte der Feind die Stadt. Zehntausend Menschen flüchteten zum Tempel, den der Marschall Pierre de Sévry noch hielt. Ein heftiges Gewitter brach los und behinderte das Auslaufen der Schiffe.
Bertrand de Raguenaud aber ritt schnell wie ein Pfeil auf eines der Stadttore zu. Er machte dort keinen Halt, im Gegenteil, als sich die Landschaft aus Dünen und Felsen vor ihm ausbreitete, lockerte er mit einer Schulterbewegung die Lanze unter seiner Achsel und ritt, seine Waffe senkrecht in die Höhe haltend, geradewegs auf die abertausend bunten Zelte des Feindes zu. Die Bogenschützen, die auf die Mauern von Akko zielten, glaubten, das Opfer einer Sinnestäuschung zu sein, hervorgerufen durch die Wüstenhitze oder das wilde
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