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Die Lanze des Herrn

Die Lanze des Herrn

Titel: Die Lanze des Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaud Delalande
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plötzlicher Windstoß verfing sich in seinem Umhang. Der Sultan spuckte aus und legte eine Hand in seinen schmerzenden Nacken. So blieb er einige Minuten auf dem Hügel in der Nähe des eingestürzten Turms stehen. Er genoss die Stille, die tiefe Stille vor dem Sturm.
    Der Tag des Gerichts war gekommen.
    Es war der 18. Mai 1291.
    »Bitte, gnädiger Herr.«
    Bertrand de Raguenaud hatte seinen weißen Waffenrock mit dem roten Kreuz auf der Brust angelegt. Drei Beutel hingen an seinem Gürtel, dazu sein Schwert mit dem Silberknauf aus der Schmiede von Saint-Clair. Sein Kettenhemd schimmerte im Licht, das durch die Schießscharten drang. Er hörte die auf dem Turm gehissten Fahnen im Wind knattern.
    Er hatte gerade einen Blick auf das feindliche Heer geworfen und dabei die vielen tausend Männer gesehen, die ihr Gebet bei Sonnenaufgang verrichteten. Ihre Zelte und Teppiche bildeten in der Wüste einen endlosen Flickenteppich. Um das Lager herum standen unzählige Pferde und Kamele. Auf der anderen Seite erstreckte sich das endlose Meer mit seinen weißen Wellenkämmen. Vielleicht ihre Rettung. Auch für Bertrand war der entscheidende Moment gekommen. Er wusste, dass er nicht fliehen würde. Im Gegenteil. Er würde sich dem Feind entgegenwerfen, würde sich schlagen, um die Pergamentrollen zu retten, die er heute Morgen in einem Lederbehälter an seinem Körper festgebunden hatte.
    Er zog seine Kettenhaube über den Kopf. Etienne, sein Knappe, hielt seinen Helm. Unweit von ihm priesen zwei Mönche mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen Gott mit Lobgesängen. Bertrand blickte starr vor sich hin, dann stülpte er sich seinen Helm über. Sein Gesicht verschwand hinter der verzierten eisernen Maske. Nur seine Augen waren noch durch den Spalt des Visiers zu sehen. Er bereitete sich auf seinen letzten Ausritt vor.
    »Bitte, gnädiger Herr.«
    Er streckte den Arm aus. Etienne legte ihm den Gurt seines Schilds über die Schulter. Dann den Schild selbst, auf den er am Vorabend »Akko MCCXCI« hatte eingravieren lassen, im Gedenken an die fünfzehn Jahre, die er im christlichen Königreich des Vorderen Orients verbracht hatte, und zu Ehren dieser Tage der Wahrheit, die vielleicht die letzten seines Lebens sein würden. In wenigen Augenblicken würde er die Wendeltreppe hinuntersteigen und den Platz betreten, an dem sein Schlachtross, der stolze Bellerophon, auf ihn wartete. Aber noch war seine Ausrüstung nicht vollständig. Etwas fehlte.
    Bertrand dachte zurück an das Eintreffen der Mönche aus der Wüste.
    Einige Wochen zuvor hatte er auf Befehl von Guillaume de Beaujeu, dem Großmeister der Templer, eine Gruppe von Mönchen aus einem Kloster am Sinai empfangen. Sie wollten ihm unbedingt geheimnisvolle Pergamente zeigen, die sie, wie sie sagten, in einer ihrer Schatztruhen in den unterirdischen Gewölben des Klosters gefunden hatten. Sie hatten die Rollen entziffert und dabei von der Existenz einer geheimen Kapelle erfahren. Um sie zu entdecken, hatten sie ihre Leute bis nach Palästina ausgesandt. Sie waren überzeugt, dass die Lanze aus der Kapelle, die man schließlich nach vielem Umherirren gefunden hatte, die heilige Lanze war, die echte Lanze Christi, oder vielmehr des römischen Legionärs, der am Abend der Kreuzigung die Seite Jesu durchbohrt hatte. Um die Glaubwürdigkeit ihrer Geschichte zu untermauern, erläuterten sie, dass die Pergamente zuerst im Tempel von Jerusalem aufbewahrt worden seien und danach den Essenern anvertraut wurden, von denen schließlich einige am Sinai eine eigene Gemeinschaft gründeten. Sie hatten Bertrand de Raguenaud und dem Großmeister Guillaume die auf Griechisch, Aramäisch und Hebräisch in winziger Schrift abgefassten Texte gezeigt. Ihr Fund faszinierte sie, erschreckte sie jedoch auch, und weil das Christentum im Vorderen Orient bedroht war, hatten sie nun Lanze und Pergamente nach Akko gebracht, zur letzten Stadt der Kreuzritter, die den Sarazenen noch widerstand.
    Von den erschöpften Mönchen, die nach einer gefährlichen Wanderschaft in Akko eingetroffen waren, lebten nur noch die beiden, die im Turm gebetet hatten. Sie hofften vielleicht auf ein Wunder, ein Zeichen des Himmels, mit dem Gott seine Macht unter Beweis stellen würde. Sicher hofften sie auch, dass die Lanze den Lauf der Geschichte ändern würde.
    Auf seinem letzten, verzweifelten Ritt wollte der Ritter Bertrand nicht sein Schwert benutzen.
    »Man bringe sie mir«, wies er seinen Knappen an.
Er würde

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