Die Lanze des Herrn
Kampfgetümmel. Der Ritter hatte die Spitze seiner Lanze in den Himmel gerichtet, der in Flammen zu stehen schien. Durch einen geheimnisvollen Zauber wichen die Soldaten vor ihm zur Seite und bildeten eine Gasse. Ritter Bertrand wollte mit der Lanze zustoßen, konnte aber niemanden treffen. Es war, als beschränke sich die Lanze darauf, ihm Platz zu schaffen, ohne jemanden verletzen zu wollen. Der Kreuzritter begriff das Wunder nicht. Die Männer knieten zu Tausenden nieder, verhüllten das Gesicht und bedeckten sich den Kopf bei seinem Anblick.
Einen Augenblick schien es, als sei die Lanze von einem einzigartigen Licht umgeben, als reichten ihre Strahlen von einem Ende der Erde zum anderen. Doch die Erscheinung dauerte nicht länger als ein Blitz. Dem Ritter, der bereit war zu kämpfen und zu sterben, stellte sich fortan kein Hindernis mehr in den Weg. Sein Pferd teilte die feindlichen Linien, inmitten der Zelte, Kamele und Pferde. Teppiche flogen in die Luft, Lebensmittel und Gewürze stürzten zu Boden. Hätte Bertrand mit der allmächtigen Lanze diese letzte Schlacht zu einem anderen Ausgang führen können? Dies schien nicht Gottes Wille gewesen zu sein. Er lenkte den Ritter durch den Ozean der feindlichen Heerscharen, bis er vor dem Zelt von Al-Malik al-Asraf stand, von wo aus dieser und seine Heerführer die Schlacht leiteten.
Sich aufbäumend blieb Bellerophon stehen.
Der Sultan hatte gesehen, was sich ereignet hatte. Die Hände in die Seiten gestemmt, einen feuerroten Turban auf dem Kopf, ließ er seinen strahlenden Blick erst auf dem Ritter und dann auf der Lanze ruhen.
Die beiden Männer musterten einander.
»Müssen wir denn ewig gegeneinander kämpfen?«, schrie der Templer.
Der Sultan antwortete nicht.
»Müssen wir das?«, schrie Bertrand de Raguenaud erneut.
Eine Weile herrschte Schweigen, dann erwiderte der Sultan:
»Musst du Gott und seinem Propheten gegenüber immer so arrogant sein?«
Wieder musterten die beiden Männer einander. Bellerophon wieherte. Ritter Bertrand gab seinem Pferd die Sporen, und das Tier galoppierte weiter bis zum Horizont, ohne dass der entsetzte Kreuzritter es anhalten konnte.
Der Ritt dauerte so lange, bis Reiter, Pferd und Lanze in Sicherheit waren.
So lautete die Legende der Mönche vom Sinai, und durch die ließen sie sich bei ihren Buchilluminationen inspirieren. Bertrand von Raguenaud wurde gerettet, ohne den Grund zu begreifen. Erst viel später wurde ihm bewusst, dass ein Wunder geschehen war. Er erkannte, dass der Lanze die Macht innewohnte, ganze Armeen zu besiegen und den Lauf der Geschichte zu ändern. Er wusste aber auch, dass sie an jenem Tag nicht noch mehr Blut vergießen wollte. Bevor er in seine Heimat zurückkehrte, wurde Bertrand, genau wie einst Longinus, immer wieder das Opfer widersprüchlicher Gefühle. Deshalb zog er sich in die Einsamkeit zurück und studierte die Heilige Schrift. Irgendwann hörte er, dass die Festung und der Tempel von Akko noch zehn Tage Widerstand geleistet hatten. Zehn Tage, nachdem er die Stadt verlassen hatte, musste Pierre de Sévry mit dem Sultan verhandeln und ihm seine Leute ausliefern, darunter einige seiner besten Ritter. Sie wurden von den Sarazenen enthauptet. Bertrand dachte lange über die Gewalttätigkeit der Menschen und die Gründe für ihre nie endenden Kämpfe nach. Er versuchte zu verstehen, was Gott mit den heiligen Stätten und dem Grab Christi vorhatte, aber auch, welchen Sinn sein eigenes Leben hatte. Endlich beschloss er, sich so zu verhalten wie sein Vorgänger Longinus viele Jahrhunderte vor ihm.
Es war nicht gut, dass die mächtige Lanze in den Händen der Menschen blieb. Wie das Feuer des Prometheus durfte nur Gott allein sich ihrer bedienen. Deshalb brachte er die Reliquie wieder in die Kapelle im Heiligen Land, wo die Mönche vom Sinai sie gefunden hatten. Nach vollbrachter Tat ließ er die Kapelle zumauern. Die Arbeiter hinterließen auf der Mauer zur Mahnung ihre Zeichen, ihren Beitrag zum Epos der Lanze.
Beim Eintreffen in seiner Heimat war der Kreuzritter Bertrand de Raguenaud am Ende seiner Kräfte.
Er führte die Pergamente bei sich, die ihm die Mönche in Akko anvertraut hatten und die er in der letzten Schlacht unter seiner Rüstung in einer Lederhülle auf dem Herzen getragen hatte.
♦♦♦
Im November 1307 stand eine kalte Sonne über der Gegend, in der die fränkische Komturei von Saint-Clair-sur-Epte lag. Auf dem Gefieder der Enten, die von den Teichen aufstiegen,
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